AUTOBIOGRAFIE

Olga Krause

Zu kess für die KPSS: Mein Leben als Liedermacherin in der Sowjetunion

Erster Teil – Mein Weg zur Musik

I. Kindheit

GEBT DEM KIND WAS ZU TUN

Seit ich als Kind zurückdenken kann, lief ich immer mit dick eingebundenem Hals herum. Ewig hatte ich Angina und geschwollene Mandeln. Da saß ich dann da, für mich allein in einer Ecke, und bastelte oder dachte mir etwas aus … Wie meine Mama schon sagte: »Ljolka ist so ruhig – das heißt nichts Gutes!« Mal schnitt ich die Fransen an Omas Hermelinfell-Muff zurecht, damit sie nicht so runterbaumeln, mal stutzte ich die Zacken an Mamas Briefmarkensammlung – ein Erbe von ihrem Urgroßvater – damit gleichmäßige Bildchen rauskommen, die ich dann sorgfältig in Papas Großbuch klebte: die roten zu den roten, die blauen zu den blauen, und die ganz verschiedenfarbigen – auf eine eigene Seite.

Ich war ein fleißiges Mädchen und bemühte mich im Schweiß meines Angesichts, es meinen Eltern recht zu machen. Während der üblen Tracht Prügel, die ich mir meistens damit verdiente, stellte ich mir vor, ich sei Soja Kosmodemjanskaja, und ließ alles heldenhaft über mich ergehen.

Meine Mama brachte ich zur Weißglut, aber mein Papa stand mir bei, so gut er konnte, und redete auf meine Mutti ein: »Jetzt hau sie doch nicht auf den Kopf! Die verblödet uns sonst noch völlig und wird am Ende zur Bettnässerin!«

Schließlich gab mein Opa den weisen Ratschlag: »Gebt ihr etwas Vernünftiges in die Hände! Das Kind braucht etwas zu tun!«

Leichter gesagt als getan. Meine Oma versuchte, mir Stricken und bulgarischen Kreuzstich beizubringen. Aber mein Sitzfleisch war chancenlos gegen die chronische Unaufmerksamkeit. Regelmäßig Stiche und Maschen zählen – das überstieg meine Kräfte.

Das war der Zeitpunkt, als sie entschieden, mich ans Klavier zu setzen.

UNTER DEM KLAVIER

Zu dem Klavier waren wir rein zufällig gekommen, die Dienstkollegen meines Vaters aus Kemerowo hatten uns damit beglückt. Es wurde irgendwann im Winter bei uns angeliefert und stand lange ächzend und stöhnend im Wohnzimmer zum Auftauen, bis es zu sich kam.

Für ein Kind ist ein Klavier im Haus wie ein eigener kleiner Staat. Besonders, wenn es nicht mitten im Zimmer steht, sondern in der Ecke, sodass man sich darunter ganz tief verkriechen kann. Es ist auch ein gutes Versteck, wenn die Eltern wütend werden. Die holen dich nämlich nicht auf allen vieren kriechend von dort raus. Für Erwachsene schickt sich das doch nicht.

Außerdem lässt es sich unter dem Klavier wunderbar singen. Früher, bevor wir das Klavier hatten, hab‘ ich überhaupt nicht gesungen. Aber unter dem Klavier ging es fast nicht anders. Mein erstes Lied war ein Liebeslied:

… Auf dem engen Treppelpfad trifft ein Jungne Magd.

Vorbeizudrängen gibts keinWeg, damit kein Ährchen bricht.

Wie Kohlen gleich die Äuglein glüh’n, damit ist alls gesagt

Ach, du Roggen, was dein Lied verspricht …

Papa sagte daraufhin, ich solle lieber patriotische Lieder singen. Mama hielt dagegen: »Das Lied über den Roggen handelt von der russischen Natur. Das ist lyrisch-patriotisches Genre.«

Aber für mich hatte Papas Meinung Priorität, und ich traktierte Großvaters Grammophon mit Nadeschda Obuchowas Darbietung von Jakow Schwedows bekanntem Pionierlied Das Adlerjunge. Klavierspielen durfte ich einstweilen noch nicht. Wir warteten auf Onkel Osja, der aus Nowosibirsk auf Dienstreise zu uns nach Stalinsk-Kusnezki kommen sollte, um unser Klavier zu stimmen.

BARITON

Und Onkel Osja kam. Er war klein – die Nase ausgenommen –, dürr, und vor allem eins: nicht zu überhören.

»Und was jetzt? Das nennt ihr ein Klavier? In welcher Schemelfabrik haben sie das denn zusammengezimmert? Leopold Karlowitsch, ich sage es Ihnen, Hand aufs Herz: Ein Kind, das auf dieser Kommode Klavier spielen lernt, wird zum Krüppel!«

»Aber Josif Arnoldowitsch, wo soll ich denn in nächster Zeit etwas Anständiges finden? Schwiegermutter steht in Leningrad auf der Warteliste, aber wann sie an der Reihe sein wird …«

»Ein scheußliches Möbelstück, dieses parallelsaitige Monstrum, und zu allem Übel hält es nicht einmal die Stimmung! Na gut, so lange ich hier bin, werd‘ ich es eine Woche lang täglich stimmen, und dann sucht ihr euch hier einen Heimwerker.«

Einen halben Tag lang hing Onkel Osja schnaufend über dem Instrument, zurrte die Saiten fest und pikste auf der Klaviatur herum, bis er auf einmal wie besessen Die Sturmglocken von Buchenwald in die Tasten haute: Menschen dieser Erde, steht für eine Minute auf!

Oh, ja, ich stand auf … Und blieb stehen, wie angewurzelt, so sehr ging mir dieses Lied durch Mark und Bein. Der Knabenchor mit seinem Adlerjungen konnte einpacken! Onkel Osjas Bariton hatte mich wie der Blitz getroffen.

Zuvor hatte ich schon auf Opas Grammophon die Arien von Schaljapin abgespielt und war nicht so leicht zu überlisten. In unserer Familie munkelte man, von Schaljapins Stimme würden die Fensterscheiben zu klirren beginnen. Ich drehte das Grammophon auf volle Pulle, stellte es sogar für extra Lautstärke in ein leeres Kupferschaff, aber die Fenster reagierten nicht auf Schaljapin. Onkel Osjas Sturmglocken von Buchenwald hingegen brachten das ganze Haus in Aufruhr.

Damals war mir sofort klar – ich würde mein Leben hingeben, nur um so zu singen wie Onkel Osja! Aber Papa sagte, Bariton sei eine reine Männerstimme. Da war mir klar, dass ich richtig tief in der Tinte saß … Jeder dahergelaufene kreischende Knirps würde später diese schmetternde, samtige Stimme bekommen, nur ich war verdammt zu lebenslangem Sopran. Warum??

Ich heulte die ganze Nacht und malträtierte das tränennasse Kopfpolster, bis im Morgengrauen mein Beschluss feststand: »Es reicht! Ich bin kein Mädchen mehr. Ich bin ein Junge. Und wenn ich groß bin, werde ich ein Mann mit einem Bariton.«

HAUPTSACHE, DIE STIMME STIMMT

Die Mädchen im Hof nannten mich eine dumme Gans. Wie könne ich ein Junge sein mit meinen hüftlangen Zöpfen!? Ich hatte aber in Papas Enzyklopädie Porträts von Männern mit langen Haaren gesehen, unter anderen der große englische Dramaturg Shakespeare, der russische Schriftsteller Gogol und der ungarische Komponist Ferenc Liszt. Die Mädchen hielten daraufhin voller Respekt den Schnabel.

Nach dem Mittagessen sagte aber Tanja Arnautowa, mein Papa und unsere ganze Sippschaft seien Scheiß-Intellektuelle und Saujuden, die man nur nicht rechtzeitig abgeschlachtet habe, wie es sich gehört hätte, gemeinsam mit allen unseren Komponisten, Schriftstellern und Dramaturgen. Da dachte ich mir »Pfeif drauf! « und ließ diese Mädchen links liegen. Es gab auch nichts, was ich mit ihnen noch zu tun gehabt hätte. Da ich jetzt ein Junge geworden war, hieß das, dass ich mich mit Jungs anfreunden musste.

Aber die hatten den ganzen Tag nichts als Fußballspielen im Kopf und beachteten mich überhaupt nicht. Nur im Tor wollte keiner von ihnen stehen. Sie hatten schon alles probiert: Auszählen, Knobeln, eine Münze werfen … Aber immer noch will keiner im Tor stehen. Sie beginnen schon fast zu raufen, als ich daherspaziert komme.

»Stehst du im Tor?«

»Okay.«

Ich weiß nicht mehr, wie viele Bälle ich durchgelassen habe – ist auch egal. Wie oft mir der Ball gegen den Kopf knallte – Schwamm drüber. Dafür parierte ich fünfmal, und am Ende der zweiten Halbzeit war ich der Team-Torhüter.

Danach fuhr ich mit den Jungs mit der Straßenbahn ans andere Ende der Stadt im Warmwasserkanal baden. Dort zogen sich alle Jungs die Unterhosen runter, und ich meine auch … Wie sich herausstellte, hatten die Jungs alle ein Pipi, das herunterbaumelte, im Gegensatz zu meinem. Serjoscha Kurtikow sagte: »Das ist, weil du ein Mädel bist.«

Aber Jurka Gankin beruhigte mich: »Das ist, weil deine Zöpfe die ganze Kraft aufsaugen. Wenn du die Zöpfe abschneidest, wächst auch dein Piepmatz.«

Herrschaftszeiten! Was sollte ich tun? Mama sagt doch immer allen, nachdem ich die ganze Familie mit meinem Unfug an den Bettelstab gebracht hätte, wären unser einzig verbliebener Reichtum meine Zöpfe. Das heißt doch, wenn ich jetzt auch noch die Zöpfe abschneide, gibt es noch heftiger eins hinter die Löffel als für die Briefmarken und Omas Muff. Da hilft dann auch keine Soja Kosmodemjanskaja mehr – die machen mir den Garaus! Ich schluckte die Tränen runter, die mir vor Ärger in die Augen stiegen, und sagte: »Ich brauch so einen Piepmatz sowieso nicht. Ich bin einfach ein Junge ohne Piepmatz. Hauptsache, ich werde, wenn ich groß bin, ein Mann mit einer schönen Männerstimme, die man Ba-ri-ton nennt!«

Niemand von den Jungs hatte etwas einzuwenden, und wir gingen schwimmen.

DIE SCHWIMMER

So war ich ein Bub geworden, ein Bengel, auf den der Rest der Jungs bauen konnte, und begann, mein Lausbubenleben auszukosten. Den ganzen Sommer, von Mai an, trieben wir uns am Warmwasserkanal herum. Ohne Unterhose schwammen wir aus rein praktischen Gründen. Schwimmen im Warmwasserkanal war streng verboten. Dort liefen alle Abwässer der Stadt und der umliegenden Fabriken zusammen, wie zum Beispiel die beiden Kusnezker Kombinate für Aluminium und Metallurgie. Wenn du dich mit nasser Unterhose erwischen lässt, bist du als Warmwasserkanalschwimmer auf frischer Tat ertappt. Außerdem bildete sich im Kanal, wenn die Schleusen für die nächste Ladung Abwasser auf- oder zugingen, ein Sog, der sogar einen Erwachsenen mitreißen konnte. Aber uns Rasselbande beeindruckte das wenig.

Wir saßen schon am Ufer und ließen uns von der Sonne trocknen, nur Jurka Gankin zog noch seine Bahnen – in einwandfreiem Kraulstil, nicht zu vergleichen mit unserem »Hundepaddeln«. Und dann war er weg. Zuerst dachten wir, er sei nur untergetaucht und bliebe absichtlich so lange unter Wasser, um uns zu erschrecken. Aber Jurka tauchte niemals wieder auf.

In unseren Hof kehrten wir kleinlaut und verstört zurück, und alle schlichen sich schweigend in ihre Häuser. Ich verdrückte mich unters Klavier und weinte leise. Draußen lief Jurkas Mutter auf und ab und rief ihn zum Abendessen.

In der Nacht suchten mich Alpträume heim. Jemand lief mir nach, und noch bevor ich ordentlich Anlauf nehmen konnte, um wegzufliegen, fiel ich mit der Nase voran in den Ufersand, und die knochigen Hände von diesem Jemand drückten mir die Kehle zu.

Wie ich im Krankenhaus gelandet war, weiß ich nicht mehr. Aber als ich wieder rauskam, fielen schon die Blätter von den Bäumen. Und dann kam Oma Nina aus Leningrad und nahm mich mit nach Eupatoria.

IN EUPATORIA

Wir wohnten in der Militärsiedlung bei Oma Claudia Turtschaninowa und ihrem Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Meine Versuche, die ortsansässigen Kinder zu überzeugen, dass ich ein Junge war, scheiterten kläglich, denn die Kinder durften sich nicht nur nicht mit mir anfreunden, sondern nicht einmal in meine Nähe kommen, wegen meiner Tuberkulose. So spielte ich eben mit mir selber, aber eigentlich hatte ich gar keine Zeit zum Spielen. In der Früh fuhr ich mit Oma Nina mit der Straßenbahn zum Liman ins Schlammheilbad. Dann saßen wir den ganzen Tag am Meer. Oma strickte und ich baute aus Sand die ägyptischen Pyramiden, Berge und Höhlen. Wenn ich müde wurde – und damals war ich sehr schnell erschöpft – legte ich mich neben Oma hin und döste oder las ihr abwechselnd die Märchen von Baschow und Tom Sawyer von Mark Twain vor.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich lesen gelernt habe. Laut den Erwachsenen hat es mir niemand beigebracht. Wahrscheinlich war das noch im Krankenhaus passiert.

An den Abenden »klimperte« Oma Claudia mit mir am Pianino. Später, als sie in der Küche mit den Erwachsenen Tee trinken ging, »klimperte« ich alleine weiter.

Die Großmütter stritten untereinander:

»Du solltest mit ihr die Tonleitern üben, Claudia.«

»Aber nein, Nina, das Kind ist noch klein und schwach, die Händchen taugen noch nichts. Jetzt soll sie sich ans Instrument gewöhnen, der Rest kommt schon von selbst.«

»Sie muss erst mal die Noten lernen.«

»Sie muss erst mal am Leben bleiben, Ninchen, sie muss am Leben bleiben …«

EIN WINTER AUF DER KRIM

Na gut, blieb ich eben am Leben. Nach den Feiertagen im November konnte mich Oma Nina schon ohne schlechtes Gewissen im Internat für tuberkulosekranke Kinder in Eupatoria unterbringen und selber zurück nach Leningrad fliegen. Verlassen fühlte ich mich deshalb nicht. Oma Claudia kam mich jeden Tag besuchen, und an den Sonntagen nahm sie mich mit zu sich nach Hause, wo ich wie besessen ihr Piano weiterbearbeitete und versuchte, dazu Die Sturmglocken von Buchenwald zu krächzen. Aber ich kriegte das irgendwie überhaupt nicht hin. Dafür lernte ich recht gut das Liedchen Meinst du, die Russen wollen Krieg, und danach

Am Steilufer entlang das Feld

neben Hütte und Verschlag

in Grenadiers-Tuch grau gehüllt

ging ein Soldat …

Oma Claudia bemühte sich, meinen Musikgeschmack mithilfe russischer Romanzen wie Kalitka umzuorientieren, aber ich war unbeugsam, bis ich Lidia Ruslanowa Der Mond ward purpurn singen hörte. Den Rest der Woche wandelte ich geistesabwesend umher und brüllte selbstvergessen:


Weißt du noch, tückischer Verräter,

wie ich dir vertraut habe?

Für mich war es eine kolossale Entdeckung, dass man Lieder nicht unbedingt mit feinem Stimmchen vorsäuseln musste, oder in feierlichem Bass schmettern. Es reichte völlig aus – und war manchmal sogar unvermeidlich – sie von ganzem Herzen herauszubrüllen.

Und außerdem las ich. Alles, was ich in die Finger bekam. Mein allerliebstes Buch war Prinz und Bettelknabe von Mark Twain. Das las ich immer und immer wieder, den ganzen Winter lang.

Der Winter auf der Krim verging für mich wie im Flug, und schon im April kam Oma Nina aus Leningrad zurückgeflogen. Oma Claudia und sie huschten den ganzen darauffolgenden Sommer wie Glucken um mich schwindsüchtiges Persönchen herum.

WLADIMIR SOFRONIZKI WIRD AUS MIR KEINER

Anfang August brachten sie mich in mein Elternhaus in Stalinsk-Kusnezki zurück, zur Aufnahmeprüfung in der dortigen Musikschule. Zu Hause erwartete mich eine Überraschung: meine kleine Schwester. Ich hatte schon gewusst, dass ich eine hatte. Denn, als ich noch zu Hause lebte, waren mein Vater und ich sie ständig im Dorf besuchen gewesen – bei einer Stillfrau, die Ziegen hielt und selbst vier Kinder hatte. Meine Mama hatte ja keine Milch. Umso weniger, da meine Aljonka ja nicht geplant war. Es war damals einfach schon zu spät, als das Abtreibungsverbot aufgehoben wurde. Zu der Stillfrau war sie gekommen, damit sie nicht auch so eine Rachitis kriegt wie ich.

Was es da zu planen oder nicht planen gab, konnte ich mir freilich schlecht vorstellen. Zu meiner Verwirrung sagte Oma Nina außerdem, sie hätten mir Aljonka als Sonderbestellung gekauft, als Ersatz für die Puppe aus Deutschland. An die Puppe aus Deutschland erinnerte ich mich noch lebhaft: Die ganze Familie hatte sie mir feierlich überreicht. Doch bereits ein paar Stunden später war sie in alle Einzelteile zerlegt.

»So eine prächtige Puppe ist hin!« – meine liebe Frau Mama war den Tränen nahe, als sie mir den Hintern versohlte.

Aber ich wusste jetzt dafür, wie die Puppenaugen auf- und zugehen, und wo der Quietscher eingebaut ist. Natürlich versteckten sie meine kleine Schwester Aljonuschka in sicherem Abstand von mir, solange ich nicht klüger geworden war.

Und dann war da noch das Kindermädchen Schura, das wir jetzt hatten. Sie hatte ihren Namen auf den Fingern (Zeige-, Mittel-, Ring- und kleinem Finger) der linken Hand geschrieben. Anders als meine Eltern rauchte sie »Geißfuß«-Papirossy, die sie aus Zeitungspapier drehte, in das sie Tabak Marke Eigenbau vom Basar streute. Während meine Eltern in der Arbeit waren, spielte sie mit ungeheurem Schwung auf ihrer Balalaika.

Wir wurden schnell Freunde – dafür reichte es, Der Mond ward purpurn im Duett zu singen. Außerdem sang sie oft das entzückende Lied Olja liebte den Fluss. Dieses Lied lernte ich auch und brachte es mit zitternder Stimme dar:

Plötzlich da zückt einen Dolch er,

Beugt leis‘ über Olja sich hin,

Olja schließt ihre Augen,

Im Flüsschen ihr Blumenkranz schwimmt.

Wie man auf Nanny Schuras Balalaika spielt, hatte ich in drei Tagen raus. Die Aufnahmeprüfung in die Musikschule bestand ich, aber nur für die Abendschule, und das auch nur, weil Papas Freund, Onkel Martin, an dieser Schule Klarinette unterrichtete. Meine Mama bekam einen hysterischen Anfall, weil ich auch hier zu nichts zu gebrauchen war. Mein Vater redete ihr lange gut zu, bis er schlussendlich die Nase voll hatte und sie anschrie: «Es bringt doch nichts, aus dem Kind einen Wladimir Sofronizki herausquetschen zu wollen. Dir fehlt selber jegliches Gehör, und deine berühmten musikalischen Vorfahren haben es auch nicht weiter als in den altdörflichen Zigeunerchor bei Herrn Schubin gebracht!«

So hörte ich erstmals den Namen des großen Pianisten Wladimir Sofronizki. Danach ließ ich keine einzige Radioübertragung über ihn aus und hatte alle seine Platten in meiner Sammlung. Ihr könnt in Wikipedia nachlesen, dass Wladimir Wladimirowitsch sein Leben lang Konzertmitschnitte hasste und sie »meine Kadaver« nannte. Leider hatte ich nicht das Glück, den Maestro live zu erleben – er starb Ende August 1961 im Alter von sechzig Jahren in Moskau, drei Jahre vor der Rückkehr meiner Familie aus Sibirien.

Nach dem Streit über mein fehlendes musikalisches Talent sprachen meine Eltern fast zwei Wochen nicht miteinander. Nanny Schura und ich gingen einstweilen in die Morgenvorstellung im Kino im Palast der Aluminiumarbeiter und schauten viermal hintereinander den Zeichentrickfilm Cipollino an. Danach beschloss ich, Geiger zu werden wie Professor Birne.

VERGISS DIE GEIGE

»Mama, Papa! Ich werde Geigenspieler!«

»Jaja …«

Sie waren einverstanden, und ich glaubte ihnen das. Aus Leningrad kam ein Container. Der Hauswart Onkel Tagir schleppte ihn gemeinsam mit seinen Genossen in unsere Wohnung im zweiten Stock hinauf. Als sie den Container ausschlachteten, war darin ein nagelneues Pianino der Marke Roter Oktober.

Unser Flügel wurde zu einem großen Blumentischchen für Mamas Geranien, Veilchen und Kakteen.

Ein Stimm-Meister aus der städtischen Kulturverwaltung wurde eingeladen. Der lange, bucklige Kerl war ein Baltendeutscher und somit unser Sozius, Friedrich Ottowitsch Korch.

»Genosse Krause! Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen! Stolzer Besitzer dieser Wiedergeburt eines J.Becker-Klaviers zu werden, ist ein sagenhaftes Glück! Und was das Beste dran ist – es wird dir niemand stehlen, die würden sich einen Bruch heben! «

Den Flügel brachte Genosse Korch später im Kabinett des Direktors des zentralen Feinkostladens unter, dessen Frau verbissen nach Kultur gierte und ihren Mann ständig in die örtliche Philharmonie zerrte, um den anständigen Leuten um nichts nachzustehen.

Meine ersten Sitzungen am wiedergeborenen Becker waren eine Qual. Das fabrikneue Instrument wollte den Kinderfingern nicht gehorchen. Im Gegensatz zu dem Instrument in Eupatoria musste man die Tasten des Roten Oktober fest hinunterdrücken. Aber ich machte mir nichts draus, schließlich würde ich ja Geigenspieler werden …

Obwohl – morgen ist schon der erste September, und sie haben mir immer noch keine Geige gekauft. Ich spürte schon, dass da etwas faul war, aber wollte nicht frühzeitig in Panik geraten.

Am nächsten Tag, so gegen drei, machte ich mich mit Nanny Schura auf den Weg zur ersten Musikstunde. Auf der Tür, durch die wir gingen, stand »Geigenklasse«, und ich atmete beruhigt auf.

Meine Lehrerin, eine feurige Brünette mit riesengroßen schwarzen Augen, hieß Olga Fjodorowna. Mein Herz machte einen Sprung bis zum Plafond und krachte von dort zu Boden. Mir blieb die Spucke weg, und mit den Zähnen klapperte ich Mozarts Türkischen Marsch.

»Na, mein liebes Kind, was für ein Instrument wollen wir spielen?«

»G-g-g-eiiiii-ge.«

»Nein, mein Liebes, vergiss die Geige. Du lernst bei uns Fortepiano.«

Was ein Fortepiano ist, wusste ich nicht, und wollte es auch gar nicht wissen. Ich war innerlich zerrissen. Einerseits war ich kaltblütig betrogen worden, aber andererseits – die erste Lehrerin meines Lebens war eine so wunderschöne Frau, dass ich mit ihr sogar auf einer Abdampfheizung gespielt hätte.


ERSTE AMOURÖSE KAMPFFRONT

Oh, wie sehr ich das Herz dieser edlen Schönheit erobern wollte! Als allererstes brachte ich ihr natürlich Die Sturmglocken von Buchenwald zum Besten. Aber sie hielt sich die Ohren zu, verdrehte die Augen, stampfte mit den Füßen und befahl mir, sofort damit aufzuhören, auf das staatseigene Instrument einzuhämmern. Da versuchte ich, sie mit Papas Lieblingslied Wenn du mit sanftem Blick nur schaust zu beschwichtigen. Aber sie packte mich grob an den Händen und zischte mir zu: »Nicht nur, dass du jede einzelne Note dieser abgeschmackten Schnulze um einen Halbziegel verfehlst, nein du hast auch noch zwei linke Hände! «

Ich fing fast zu weinen an, aber lauschte andächtig ihren Anweisungen. In Folge sagten wir einige Musikstunden hintereinander Auf grüner Wies‘ gegangen, tripp-trapp, kam’s Pfeifchen mir abhanden, tripp-trapp auf, während sie in einer Tour auf mich einschrie:

»Schaukle nicht! Wackle nicht mit den Schultern! Der Ball! Du musst dir einen Ball unter der Handfläche vorstellen! Gleichmäßig! Geh‘ gleichmäßig über die Tasten. Und – eins, und – zwei! Der Daumen kommt genau unter dem Mittelfinger durch und weiter, als sei nichts gewesen! Und – eins, und – zwei!«

Das mit der Musik konnte ich für’s erste vergessen! Nächtens riss mich mein eigener Schrei aus dem Schlaf: »Und – eins, und – zwei!«

Aber was tut man nicht alles für seine Angebetete. Ich hatte schon beschlossen, wenn ich groß und aus mir ein Mann geworden wäre, würde ich sie auf jeden Fall heiraten. Uns wäre ein langes und glückliches Leben beschert, und wir würden am selben Tag sterben, wie in den Märchen von Nanny Schura. Dass sie mich dauernd anschrie, hatte nichts zu bedeuten – Mama schrie Papa auch ihr Lebtag lang an, na und?

Diesen Programmfehler habe ich schon damals fürs Leben mitbekommen: Ob man einander anschreit und anknurrt, ist egal, Hauptsache man bleibt zusammen. Ich bewahrte also Geduld und hoffte, dass ich später ihre Liebe und Sympathie erkämpfen würde. Im Moment war auf der Liebesfront jedoch Rückzug angesagt, ohne dass ich auch nur Verteidigungsstellung einnehmen konnte.

IN DER SCHULE UND DAHEIM

Zu Hause hatten sie uns indessen mit dem Radio verbunden und Papa kaufte einen Funkanschluss. Ich hatte dieses Großereignis ungeduldig erwartet, in der Hoffnung, erneut die Stimmen von Lidia Ruslanowa, Mark BernesClaudia SchulschenkoKonstantin SokolskiSergej Lemeschew und Iwan Koslowski hören zu können – und, was das Wichtigste war, Georg Ots und die Arie aus Mister X.

Endlich war der Lautsprecher in Stellung gebracht und eingeschaltet. Aber da redet einer irgendetwas über die Landwirtschaft und Schwerindustrie.

»Papa, wann fängt dieser Onkel endlich an zu singen? «

»Das ist unser Erster Sekretär, der wird nicht singen, der liest eine Rede vor.«

Geschlagene drei Stunden saß ich still und wartete, dass Nikita Sergejewitsch Chruschtschow aufhört zu reden, und endlich Musik kommt. So war ich schließlich zur Rede des Ersten Sekretärs eingeschlafen.

In der Schule hatte mir Olga Fjodorowna schon Auf dem Feld stand eine Birke beigebracht, und wir machten weiter mit Am Weg stand ein Kiebitz. Mit Musik hatten diese Stunden nicht im Entferntesten zu tun. Das strenge »Und – eins, und – zwei« machte die Melodie zunichte. In der Musikschule hörte ich also keine Musik.

Dafür quetschte ich zu Hause aus dem spröden Roten Oktober raus, was ich nur konnte. Papa sagte, die Tasten würden nur so streng gehen, weil das Instrument neu sei. Damit es »aufgehe«, müsse man spielen, spielen und nochmals spielen – am besten Tonleitern, damit alle Tasten drankommen.

Olga Fjodorowna gab mir keine Tonleitern auf. Aber sobald ich die Zauberformel für pausenloses Spiel mit den drei Hauptfingern gelernt hatte (Ring- und kleiner Finger kamen nur vor der umgekehrten Tonfolge zum Einsatz), jagte ich immer schneller und schneller über die Klaviatur, bis zur völligen Erschöpfung. Mit den Akkorden war das schon schwerer. So sehr ich mich auch bemühte, die Handfläche zu spreizen, von einer Oktave konnte keine Rede sein: Mit dem Daumen auf dem C schaffte ich es mit dem kleinen Finger gerade mal bis zum Ais. Zwar versuchte ich allen weiszumachen, das wäre kein Ais, sondern ein B, aber das machte es für mich nicht leichter.

PAPAS LERNTIPPS

Musiktheorie merkte ich mir nur mit größter Mühe. Das lag ausschließlich an den pathologischen Besonderheiten meines Hirns. Nichts von dem, was ich auswendig lernen sollte, blieb hängen. Endlich sah mein Vater das ein.

»Was sind das wieder für Faxen? Wie heißt der Violinschlüssel?«

»Violinschlüssel.«

»Und wie noch? Habt ihr das nicht erklärt bekommen? G-Schlüssel heißt der. Weil man ihn von der zweiten Zeile aus beginnt, dort, wo die Note G der ersten Oktave ist. Das heißt, die Note G prägst du dir schon mal für immer ein. Wenn die reine Tonleiter aus den sieben Noten C, D, E, F, G, A, H besteht, und du weißt, dass G auf der zweiten Linie ist, zählst du einfach die restlichen Noten ab: F unter G, zwischen der zweiten und ersten Linie, E unter F, auf der ersten Linie, D unter E, unter der ersten Linie, C unter D, und weil wir keine Zeilen mehr haben, zeichnen wir eine Linie dazu, und schon ist D auf der ersten Zusatzlinie. Welche Noten der Tonleiter haben wir jetzt übrig? A und H. Wenn A über der Note G ist, was ist dann?«

»Dann schreibt man sie zwischen der zweiten und der dritten Linie.«

»Bravo! Und die Note H?«

»Auf der dritten Linie.«

»Richtig! Und weiter oben fängt die zweite Oktave an, und zwischen dritter und vierter …«

»Ist das C der zweiten Oktave.«

»Schlaues Kindchen! Und deine Mutter sagt, du bist zurückgeblieben …«

»So, wie du das erklärst, verstehen das auch Zurückgebliebene«, keifte Frau Mama zurück.

»Ljopold Karlitsch, Sie hätten Musiklehrer werden sollen, nicht Inscheniör! Da hätten S‘ Geld mit der Heuschaufel geschaufelt mit Privatstunden …«, mischte sich Nanny Schura in das Gespräch ein.

Ab jetzt bekam ich bei den Diktaten in der Solfeggio-Stunde nur mehr Bestnoten, was meine liebe Mutter in große Verlegenheit brachte.

»Warum ist sie dann bei der Anhörung für die Tagesschule wegen schlechtem musikalischen Gehör durchgefallen?«– mit ihren eigenen unerfüllten Ambitionen gab sie meinem Vater keine Ruhe.

»Na, wenn das jemand wüsste … Du siehst ja, wie zerstreut sie ist, vielleicht war sie auch zu nervös.«

»Nein, da stimmt etwas nicht. Sieh nur, wie sie jetzt gerade über die Tasten fegt, aber in ihrem Musikheft steht: verlangsamte Koordination, schwache Aneignung des Materials. Ich gehe morgen gleich hin und frage nach!«

»Na jetzt lass dir mal Zeit, sonst machst du nur zu viel Aufhebens. So, mein Töchterchen, zeig uns mal, was Olga Fjodorowna dir gerade beibringt.«

Ich wurde sofort misstrauisch, mein Herz rutschte mir in die Hose, aber ich konnte nichts tun, außer das Notenheft aus der Mappe zu ziehen.

»Hier, Von den Kaloschen und Der kleine Kuckuck

»Na komm, spiel mal.«

Ich seufzte tief und begann zu spielen. »Und eins, und zwei …«

»Halt, stopp! So geht das nicht! Das ist doch ein Lied!« Papa sprang ungeduldig vom Sofa auf und setzte sich zu mir. »Schau, wie das geht:«

Ma-ma kauf-te Ljo-scha

Präch-ti-ge Ga-lo-schen

Rich-ti-ge Ga-lo-schen

Glän-zen, blit-zen, sehr schön.

Ver-ge-bens je-de Müh

Nass‘ Fü-ße kriegst du nie!

Papa spielte dieses Lied mit Bravour und sang noch viel besser. Davor wäre ich nie im Leben draufgekommen, dass das ein Lied hätte sein sollen. Jedoch hielt er sich überhaupt nicht an die Regeln: Er schaukelte auf dem Stuhl, seine Schultern gingen hin und her, aber dafür kam ein lebendiges Lied heraus.

»So sollst du spielen, sonst sieht es aus, als hättest du einen Besen verschluckt, während du dein Eins-Zwei herunterbetest.«

Da verstand ich, dass es ein Zuhause gibt, wo man lebendig und man selbst bleiben darf, und eine Schule, in der man nach den Regeln spielen muss.

Dank Papas Tipps lernte ich mein Fachgebiet schneller.

»Gottseidank!«, sagte Olga Fjodorowna und streichelte mir sogar über den Kopf. Und ich … Ich sagte gar nichts, nahm nur schnell meine Mappe mit den Noten und lief aus dem Zimmer – denn ein heißer Strahl sickerte bereits meine Strumpfhose entlang und hinterließ im Herabfließen einen dunklen Fleck. Niemand außer Oma Claudia und Oma Nina hatte mir jemals den Kopf gestreichelt. Vor lauter Überraschung hatte ich mir in die Hose gemacht.

HAUSKONZERTE

Nanny Schura hatte sich in unser Pianino verliebt. Sie rieb es hundertmal am Tag mit einem Flanelltuch ab und seufzte mit Tränen in den Augen: »Oh ja, das ist schon was Anderes als eine Balalaika! Ein reichhaltiges Instrument!«

»Na dann lass uns gemeinsam lernen, Nanny. Deine Balalaika haben Aljonka und ich trotzdem noch gern.«

»Jaaaaa«, sagte Aljonka, „besonders dein Liedchen von den Brennnesseln …«

Mein Schwesterchen mochte die Balalaika, obwohl ihr ein Bär über die Ohren gestapft war – sie war ganz nach der Mama geraten, völlig unmusikalisch. Nanny Schura konnten wir nur im Geheimen spielen hören – unsere Mutter durfte das nicht erfahren. Sie konnte die »Bauernlieder« die wir so liebten, nicht ausstehen. Es kam auch vor, dass Vater mit einstimmte, wenn Mama nicht da war. Während Mama im Gestaltungs-Studio im Palast der Aluminiumarbeiter eines ihrer Stillleben malte, ließen wir zu Hause die Sau raus:

Oh, Brennnessel, im Wald so fein

Wie von Pinsel hingekleckst

Ach sag, warum muss es so sein

Dass im Himbeerstrauch du wächst.

Nach unserem gemeinsamen Chor dann das Solo von Nanny Schura:

Gut und schön ist die Himbeer‘ am Morgen.

Doch der Brennnessel Ranken machen mir Sorgen.

Ich kam nicht an die Himbeere ‚ran,

Hab nur die Hände mir verbrannt.


Und wir setzen wieder ein:

Oh, Brennnessel, im Wald so fein

Wie von Pinsel hingekleckst

Ach sag, warum muss es so sein

Dass im Himbeerstrauch du wächst.


Nanny Schura sang immer inbrünstiger:

Zum Liebsten war nah, nicht fern der Weg

Doch die Brennnessel hat sich in den Weg gelegt.

Ich ging zu suchen einen neuen Pfad

Doch der Liebste hatte das Warten satt.


Daraufhin wieder wir, noch lauter:

Oh, Brennnessel, im Wald so fein

Wie von Pinsel hingekleckst

Ach sag, warum muss es so sein

Dass im Himbeerstrauch du wächst.


Zum Schluss sang Schura verschmitzt die Moral von der Geschichte:

Die Brennnessel kann nichts dafür,

hat nur beschützt die Himbeere mir

Wisst ihr, Mädels, um die Lieb‘ zu bewahren

Müssen Hände auch mal in die Brennnesseln fahren.

Wir gehen schon in den Tanz über:

Oh, Brennnessel, im Wald so fein

Wie von Pinsel hingekleckst

Ach sag, warum muss es so sein

Dass im Himbeerstrauch du wächst.

In Folge nimmt uns Vater, begleitet von der Balalaika unserer Nanny, auf die Arme und wirbelt mit uns im Kreis durch das Zimmer.

»Karlitsch, du bist doch ein Tänzer, auch wenn du hinkst!«

»Ach, Schurentschik! Zu deiner Balalaika fängt sogar ein Beinamputierter zu tanzen an!«

Dann fielen wir mit Papa gemeinsam schnaufend aufs Sofa. Nanny Schura machte ein ernstes Gesicht, legte die Balalaika beiseite und verkündete feierlich: »Und jetzt führt uns Ljolka ihr neuestes Lied auf.«

Das neue Lied hatten in der Musikschule die älteren Kinder in der Pause gesungen. Das Lied war mir so nahegegangen, dass ich mir schon beim vierten Mal den ganzen Text und die Begleitung gemerkt hatte. Mein Kindermädchen und mein Schwesterchen hatten es dann von mir gehört. Und jetzt würde Papa das Lied hören.

Ich setzte mich ans Klavier und kündigte mit wichtiger Stimme an: Madagaskar!

Tragische Durakkorde erfüllten den Raum.

Im Indischen Ozean da gibt’s eine Insel

Sie wird Madagaskar genannt

Auf ihr lebt Tommy, kein Einfaltspinsel

Klein, doch oho, der Schwarze Mann.


Ins Boot setzt er sich mit der Weißen Frau Johnny

als mit Silberglanz schon sich verzieht

am Horizont über’m Meer die Sonne

und leise singt er dazu sein Lied:


Madagaskar, so wird es genannt

wo die Erde blüht immerzu

mein schönes Heimatland

dort leben Menschen wie du

wir lieben genauso wie du,

unsre Haut mag schwärzer sein

doch ist unser Blut gar rein.


Der Herr Papa -ein großer Bank-Bankier,

ist zu der Tochter leider nicht loyal.

Er stellt in Amerika – oje

den kleinen Tommy vor ein Tribunal.


Vor wütender Masse steht er dann

gequält und ganz allein.

Mit leiser Stimme setzt Tommy an,

die Augen voller Pein:


Madagaskar, so wird es genannt

wo die Erde blüht immerzu

mein schönes Heimatland

dort leben Menschen wie du

wir lieben genauso wie du,

unsre Haut mag schwärzer sein

doch ist unser Blut gar rein.

Als ich mit Singen fertig war, kippte mein Vater vornüber vom Sofa auf den Teppich, hielt die Hände vor das Gesicht, und sein ganzer Körper bebte. Nie hätte ich gedacht, dass Papa so weinen kann.

»Jetzt wein‘ doch nicht, Papa! Das ist doch nur ein Lied!«

WIR GEHEN AUF LEPSCHI

Es wurde Winter. Der erste Winter, in dem ich kein einziges Mal krank wurde. Nur eine leichte Angina schlich sich durch, aber Nanny Schura ging mit mir regelmäßig in die Polyklinik. Dort bekam ich eine Novocain-Blockade direkt in die Mandeln. Dafür, dass ich brav stillgesessen hatte und den Mund aufgesperrt, während ich die Spritze mit dem Medikament in die Kehle geknallt bekam, gab sie mir ein Schokoladenbonbon. Bemüht hätte ich mich auch ohne Bonbon, denn eins hatte ich verstanden: Wenn ich tapfer bin, wird aus mir schneller ein Mann. Aber zu Bonbons sagte ich trotzdem nicht Nein.

Als dann die ersten wärmenden Sonnenstrahlen kamen, hielt es meine Nanny nicht mehr zu Hause – sie ging »auf Lepschi« und nahm mich mit.

Anders als ich, war meine Schwester im Kindergarten – in einem guten Amtskindergarten. Eines Morgens weckte mich meine Nanny auf und sagte: »Heute bringen wir beide gemeinsam Aljonuschka in den Kindergarten, und dann sind wir zu Besuch eingeladen und singen dort Lieder. Ich hab‘ die Balalaika dabei.«

Für gewöhnlich fiel es mir morgens schwer, mich aus den warmen Federn zu schälen, aber in diesem Fall schoss ich wie eine Pistolenkugel aus dem Bett.

Nachdem wir mit der Straßenbahn bis zum Ring gefahren waren und mein Schwesterchen im Kindergarten abgeliefert hatten, gingen wir hinter dem alten Stadion weiter und den Berg hinauf.

Vom Berg aus konnte man das ganze Bergwerkskombinat sehen – gerade grüne Straßen, mehrstöckige weiße Häuser, die Quadrate der Anwesen, das Stadion, gelblich, wie eine gebogene Handfläche, und in der Ferne die kegelförmigen schwarzen Halden.

Über den vor sich hin glimmenden Halden türmte sich gräulicher Dunst.

»Solche Bilder sollte deine Mutter malen statt so einen Krug auf einem Handtuch mit Äpfeln«, sagte meine Nanny.

Mit vorsichtigen Schritten gingen wir den steilen, engen Pfad entlang über den Berg hinunter zur Barackensiedlung, bis wir durch ein grünes Gässchen einen Wohnunterstand erreichten.

»Ist jemand zu Hause? Sind unsere Gevatterleute gesund?«

Wir betraten das muffige, verrauchte Zimmerchen ohne Bodenbelag, in dem schon alle fleißig herumfuhrwerkten und dabei vor sich hin husteten. Über dem Tisch wurde eine Schirmlampe entfacht, Dosen und Teller landeten polternd auf dem Tisch … Dann wurde der Samowar aufgepflanzt. Nanny Schura packte die Balalaika aus. Zu ihr setzte sich ein einäugiger, pickliger Junge mit Harmonika, und sie bellten mit ungebremstem Schwung los:

Prächtiges Meer, geweihter Baikal!

Gegessen und getrunken wurde wenig, dafür umso mehr gesungen. Besonders viel sang der Einäugige, der Spiridon hieß. Als wir im Galopp den Berg runterpurzelten, damit wir nicht zu spät in den Kindergarten kommen, um Aljonka abzuholen, grölte ich zwischen den Sprüngen aus voller Kehle:


Oj-io, mein Ross kohlrabenschwarz

Oj-io, mein Wolfstöter aus Stahl

Oj-io, durch den dichten Nebelwald

Oj-io, hilft nur Vater Ataman!


Mit Blei in der Brust

Kam ich aus dem Krieg.

Bind mein Rösslein fest,

bei der Frau ich lieg.


Keine Stunde später

ist der Kommissar schon hier

Bindet los mein Ross

Und die Frau nimmt er mir.

Mein Hemd zog ich aus und

den Säbel von der Wand.

Steck‘ die Hütte in Brand

mit dem Wolfstöter in der Hand.


Mein Kreuz, das trag ich bis zum Schluss

im tiefsten Wald mein Heim

Ins Dickicht zog es damals lang

nicht nur mich allein.

Nanny Schura stolperte im Minutentakt und lamentierte dabei:

»Oh Mannomannomann! Wenn das nur mal gut geht, so auf den Putz zu hauen, mein lieber Schwan, wenn das nur mal gut ausgeht! «


EIN SCHRECKLICHER FUND

In diesem Frühling hauten wir eine Woche lang auf den Putz. Zu Hause merkte niemand was, aber für mich war das, als hätte ich einen anderen Kontinent entdeckt mit bisher unbekannten Ureinwohnern. Später führte ich die Bande vom Hof in diese Gegend, hinter dem alten Stadion, wo der Bärlauch wuchs. Dort im Bärlauch, mitten im Unkraut, hatten wir unser Lager, bis wir den toten Matrosen fanden. Er lag schon kalt im Gras mit weißem Gesicht und zwinkerte nicht mal, als sich die Fliegen auf seine offenen Augen setzten. Ich hab‘ es jetzt noch vor Augen: Sein Kittel steht offen, die Gürtelschnalle glänzt, und auf der Matrosenmütze mit dem Band steht »Pazifikflotte«. Das Matrosenhemd ist schwarz vor Blut und überall sind Fliegen.

Wortlos rannten wir zur Straßenbahnstation. Und auch in der Straßenbahn blieben wir mucksmäuschenstill. Und zu Hause erzählte niemand irgendwem etwas. Aber wir fuhren nie mehr in diese Richtung. Die Erwachsenen atmeten auf – endlich mieften wir nicht mehr nach Bärlauch.

KINDERMÄDCHEN JOSJA

Ende Mai bekam mein Vater eine Dienstreise zur Abstimmung eines Projekts nach Leningrad genehmigt und nahm mich mit. Zurück flog er ohne mich, und ich blieb den ganzen Sommer bei Opa Serjoscha und Oma Nina. Die lebten am Litejny-Prospekt. Ihr kleines Zimmerchen schaute mit den Fenstern auf die Dächer der Nachbarshäuser, über denen sich die damals noch blaue Kuppel der Verklärungskathedrale erhob. Das Zimmer gehörte zum Wohnheim für den Lehrkörper der Artillerieakademie. Opa Serjoscha war zwar schon lang als Oberst in Ruhestand, aber er und Oma lebten noch immer dort. Ein Drittel des Zimmers war mit einem Paravent abgetrennt, dahinter befand sich Opas Foto- und Filmlabor.

Wie meine Oma sagte, war mein Opa ein unverbesserlicher Erfinder. Auch heute kann euch jeder Artillerieingenieur bestätigen, dass das Präzisionsfeuer-Berechnungssystem von Sergej Grigorowitsch noch nicht an Aktualität eingebüßt hat, und unsere Streitkräfte es immer noch einsetzen.

Mit Fotografie beschäftigte sich Opa seit früher Jugend. Als er in Ruhestand ging, begann er, Vergrößerungsgeräte, Kamera- und Fotoobjektive sowie Belichtungsmesser zu erfinden und optimieren. Außerdem schrieb er Artikel für die Zeitschrift Sowjetische Fotografie. Bei uns wurde Lomo auf ihn aufmerksam, und auch in Kiew interessierte man sich für ihn. Auf diese Weise wurde er noch zum Experten für die Erzeugnisse zweier der größten Fabriken der UdSSR. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass Oma und Opa mit der Familie des Fotografen Brodsky aus dem Nachbarhaus an der Ecke Litejny-Prospekt und Pestel-Straße befreundet waren.

Wenn die beiden ehrwürdigen Fotografen sich in Opas Fotolabor verschanzten, gingen Oma und ich in die Küche kochen. In der Küche stellten mich die Offiziersgattinnen auf den Tisch und wünschten sich Lieder. Am besten gefiel ihnen, wie ich Sascha, weißt Du noch, unsere Treffen im Park an der Küste, am Ufer sang. Ich liebte es, in der Küche Konzerte zu geben, und war gar nicht begeistert, wenn manchmal stattdessen dieser schlaksige rothaarige Bursche auf mich aufpasste. Außerdem war mir schließlich klar, dass es für ihn eine Strafe war, mich im Hof in der Sandkiste zu bewachen.

Aber Josja befolgte die Anweisungen der Erwachsenen ohne zu murren. Während er mir den Schlapphut zurechtrückte, die Söckchen hochzog und die Sandalen wieder zumachte, seufzte er nur ab und zu und murmelte: »Bin ich etwa dein Kindermädchen oder was?«

Das Haus, wo Oma und Opa gewohnt haben, ist mittlerweile abgerissen. Auch den Hof mit der Sandkiste gibt es nicht mehr. Es steht nur noch das Eckhaus gegenüber, auf dem eine Gedenktafel daran erinnert, dass hier einer der größten Poeten Russlands, Joseph Brodsky gelebt hatte.

II. Flegeljahre

TAFERLKLASSLER

Aus Leningrad holten sie mich spät zurück nach Hause. Es war bereits Oktober, und buchstäblich am nächsten Morgen brachten sie mich in die Schule. Diesmal nicht in die Musikschule, sondern in die für Allgemeinbildung, wie man sagt, als Taferlklasslerin.

Als meine Lehrerin Walentina Iwanowna mich sah, schlug sie die Hände zusammen:

»Oh, so ein Winzling! So dünn, da kann man ja durchschauen! Und was sollen wir jetzt mit ihr? Sie hat doch schon so viel versäumt!«

»Das macht nichts, sie ist ein gescheites Mädchen. Auch wenn sie klein ist, wird sie bald alle überholt haben.«

Hier hatte Papa natürlich maßlos übertrieben. Mit allen Kindern im Chor zu lesen, wie Mimi Milch holen geht, interessierte mich Null. Mein neugieriger kindlicher Geist gierte nach Erkenntnis. Ich konnte zwar bereits fließend lesen, aber noch nicht schreiben – und schon gar nicht schönschreiben.

Einen Federhalter hatte ich noch nie in der Hand gehabt, und das auslaufsichere Tintenfässchen übte eine magische Anziehung auf mich aus. Selbstverständlich musste ich das testen. Und weil sie mich wegen meiner mickrigen Körpergröße in die erste Bank gesetzt hatten, direkt vor dem Lehrertisch, wurden bei dem Test nicht nur mein weißer Kragen und die Manschetten, meine Bilderfibel und das Schulheft in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch das Kleid der Lehrerin und unser Allerheiligstes – das Klassenbuch.

Als mich Nanny Schura von der Schule abholen kam, um mich zur Musikstunde zu bringen, saß ich – von oben bis unten mit Tinte besudelt – im Gang vor der Garderobe auf der »Strafbank«, auf der schlimme Kinder sitzen mussten.

Üblicherweise weinten die bestraften Kinder, um ihre Scham und Reue zu zeigen, oder hielten einfach die Hände vor das Gesicht. Ich hingegen streckte mein Kinn, über dem ein Tintenschnurrbart prangte, in die Höhe, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und gab stolz und laut Wenn doch die Jungs aus aller Welt von mir.

DREI BUCHSTABEN UND SCHULE SCHWÄNZEN

Die erste und zweite Klasse in der Regelschule überstand ich mit Ach und Krach, aber die Musikschule bekam ich einfach nicht mehr auf die Reihe. Besonders, was den Fachunterricht bei meiner geliebten Olga Fjodorowna betraf. Schuld daran waren meine Schamhaftigkeit und Schüchternheit. Nicht weit von unserer Geigenklasse, wo sie mir statt Geige Klavier eintrichtern wollten, lag die richtige Klavierklasse, in der eine hochgeschossene Frau unterrichtete. Wie es der Zufall wollte, war dieses »lange Elend« mit ihren Stunden gerade vor meinem Unterricht fertig. Und sie und Olga Fjodorowna machten es sich zur Mode, hinter mir aufeinander zu sitzen, während ich meine Übungen herunterspulte, und unter leidenschaftlichem Gestöhne, völlig unpassend zu dem, was ich spielte, eng umarmt miteinander zu schmusen. Dass das Ganze hinter meinem Rücken geschah, tat nichts zur Sache: das schwarz polierte Instrument spiegelte mir das Geschehen in allen Einzelheiten wider.

Ich ging nicht mehr in den Fachunterricht, sondern nur mehr pflichtbewusst zu Musiktheorie, Musikliteratur, Solfeggio und Chor. Die Stunden von Olga Fjodorowna schwänzte ich demonstrativ, direkt vor den Fenstern ihrer Klasse, wo ich mit den Jungs »Socks« spielte. Bei diesem Spiel musste man einen mit Blei beschwerten Lederfetzen mit den Füßen möglichst oft hintereinander so treten, dass er möglichst lange in der Luft blieb.

Schreiben lernte ich schnell, besonders mit Kreide an der Tafel, denn mich hatte das Interesse für die Aufschriften und Botschaften an den Zäunen unserer Straße gepackt. Wenn du auf dem Zaun das Wort »Dummkopf« liest, musst du unbedingt eine Kreide rausholen und »selber Dummkopf« antworten.

Aber es gab auf den Zäunen auch gewisse Buchstabenkombinationen, die für mich ein Buch mit sieben Siegeln blieben. Alle meine Versuche, herauszufinden, was das Wort aus den drei Buchstaben bedeutete, das mir am häufigsten begegnete, stießen bei den Erwachsenen auf Empörung und Unverständnis, à la: »Wo hast du diesen Schund aufgeschnappt?« So als wären sie selbst Himmelsbewohner und hätten von diesen Buchstaben nie gehört. Da fiel mir nichts Besseres ein, als diese Buchstaben an die Tafel zu malen, als die Lehrerin mich aufrief und sagte, ich solle das schwierigste Wort schreiben. Jemand in der Klasse las das Wort laut vor, andere lachten. Die Lehrerin geriet außer sich, und als die Schule vorbei war, saß ich wieder auf der Strafbank. Das wäre auch alles in Ordnung gewesen, nur kam mich an diesem Tag nicht Nanny Schura abholen, sondern meine Mama.

Über meinem Kopf zogen sich dunkle Wolken zusammen. Meine geschwänzten Musikstunden kamen ans Tageslicht, und dann noch diese verdammten drei Buchstaben … Auf dem Nachhauseweg betete ich, beinahe ohne die Lippen zu bewegen: »Genosse Lenin! Du siehst doch alles. Bitte, tu was!«

Und es geschah. Kaum hatten wir die Wohnung betreten, ging das Licht aus. Ein Unfall im Umspannwerk hatte das ganze Viertel vom Strom abgeschnitten. Mama ging am Telefon schimpfen. Ihr empörter Schrei »Bevor ich mich vergesse!« hing mir noch lange in den Ohren, während ich, leise zitternd und eng an Nanny Schura geschmiegt; in einen alptraumhaften Dämmerzustand verfiel, aus dem ich erst am nächsten Tag aufwachte und plötzlich kein ganzes Wort mehr herausbrachte, sondern fürchterlich stotterte.

WAGNER-KLÄNGE UND MEIN STUMMER FREUND SERJOSCHA

Dieser Tag, als ich aufwachte und nur mehr stottern konnte, hat sich für immer in mein Gedächtnis geprägt. Als ich bemerkte, was los war, blieb ich einfach stumm. Es war wohl, wie beim Schluckauf, vor lauter Schreck passiert. Wahrscheinlich wäre, wenn mich meine Mutti ordentlich verprügelt hätte, einfach alles mit meinen Schreien rausgekommen, und das war’s. Aber die Anspannung in Erwartung der Tracht Prügel, die nicht eintrat, war einfach zu viel für mich gewesen. Nun gut, dachte ich, sage ich einen Tag lang nichts, und dann schauen wir weiter. So etwas zu beschließen, ist leicht – aber durchzuhalten … Am Abend wusste die ganze Familie Bescheid von meiner Kollision. Am nächsten Tag brachten sie mich zum Doktor, der verordnete mir Singen. Und wirklich, beim Singen stotterte ich nicht.

Jetzt begann meine Opern-Phase. Ich bemühte mich, nicht irgendwie zu singen, sondern richtig schön. In der Schule wollten sie mich hänseln, aber die aufflackernde Wut verlieh mir Flügel, und ich verdrosch gnadenlos alles und jeden, der sich im Tonfall vergriff. In dieser Phase, kann man sagen, rebellierte meine Natur. Alle weiteren Versuche, mich auf die Strafbank zu setzen, gingen für die Schulleitung nach hinten los. Jetzt erklomm ich diese Vorrichtung und gab, auf der Bank stehend, das gesamte Repertoire meiner Küchenkonzerte bei Oma Nina in Leningrad zum Besten.

Zu diesen Konzerten versammelte sich eine Menge Schaulustiger – Schüler, Lehrer und Eltern -, und die »Strafbank« wurde zur »Ehrenbank«. Die anderen Kinder taten es mir gleich, wenn sie bestraft wurden. Jeder hielt es nun für seine Pflicht, sich, auf der Bank stehend, von der besten Seite zu zeigen – egal, ob man ein Lied vorsang, ein Gedicht aufsagte oder auch nur wie ein Hahn krähte.

An all dem war natürlich die Oper schuld. Denn Papa fütterte, um mir die Singrhetorik näherzubringen, das Grammophon mit Richard Wagners Ring des Nibelungen in einer Aufführung der Berliner Oper. Feierlich und minutiös übersetzte Vater mir alle Arien, Duette und Rezitative von Siegfried, Brünhild, Alberich, Mime, Hagen und dem zwischen all jenen irrlichternden Wotan.

Im Hof hingegen war meine Lage eher trübe. Dort hatte der Technikums-Schüler Petka Dadykin das Sagen. Er und seine Clique machten sich einen Spaß daraus, mich aufzuziehen, und mich – sobald ich dann wutentbrannt mit den Fäusten auf sie zustürzte– einfach am Schlafittchen zu packen und in hohem Bogen in den nächsten Schneehaufen zu werfen.

Ich bemühte mich stets, den Hof unbemerkt zu passieren, weil ich mir noch nichts ausgedacht hatte, um es diesem Mistkerl zu zeigen. Aber eines Tages, als ich nach einem weiteren Zusammenstoß mit Petka wieder mal im Schnee steckte, kam ein Bub zu mir gelaufen. Er half mir aus der Schneewehe, klopfte mich ab, nahm mich bei der Hand und brachte mich zu unserem Hauseingang. Hinter dem Rücken hörte ich Gelächter und Gejohle. Als wir gemeinsam die Stiegen zu seiner Wohnung hochgingen, grölten die Jungs im Hof: »Ein Stummer und eine Stotterin! Braut und Bräutigam!«

Der Bub hieß Serjoscha. Er war taubstumm. Im Hof spielte niemand mit ihm. Auch ihn drangsalierten Petka und seine Bande. Jetzt hatte Serjoscha mich. Wir spielten gemeinsam Dame und Zinnsoldaten. Es stellte sich heraus, dass er eine Leseratte war, und wir tauschten Bücher aus. Dank ihm las ich mit acht Jahren immer und immer wieder Korolenkos In schlechter Gesellschaft. Aber, was das Wichtigste war: Wir konnten gemeinsam in den Hof gehen. Denn Petka Dadykin hatte seltsamerweise Respekt vor unserer Allianz.


SCHIFFCHEN, ABSCHIED, EIN BRAND UND DER MENSCH IM WELTALL

Woher ich wusste, dass er Serjoscha hieß? Wer mir das gesagt hatte? Na, keine Ahnung, er selber wird’s wohl nicht gewesen sein. Ich weiß nur noch, dass mein erster richtiger Freund Serjoscha hieß. Mir gefiel, dass alle sagten, er sei stumm – nemoj. Auf Russisch heißt das so viel wie nichtmein. Und das stimmte ja, nur ich hatte das Recht, ihn mein Eigen zu nennen. So gab ich auch immer laut zur Antwort: »Na klar ist er nicht eurer, sondern meiner!«

Außerdem gefiel mir, dass er schwieg. In unserer Allianz redete ich für mich und ihn. Als der Frühling begann, schnitzten wir Schiffchen aus Holzspänen. Serjoscha schenkte mir ein Messer. Niemand hatte solche Messer, nur Serjoscha und ich. Sein Papa hatte ein Sägeblatt in zwei Teile gebrochen. Der gezackte Teil blieb zackig, während das andere Ende scharf zugespitzt war. Der Stiel und die Messerscheide waren aus den bunten Drähten eines Telefonkabels geflochten. Mit so einem Messer konnte man sägen und schnitzen.

Unsere Schiffchen ließen wir in den Rinnsalen der Frühlingsfluten schwimmen. Als die Flüsschen versiegten, blieben uns die Lachen. Und wir begannen, Segelschiffe zu basteln. Im Radio sang dabei ein Junge:

Wo Meer und Himmel sich vereinen

erglänzt ein Segel weiß und weit.

Zu Hause stritten meine Eltern. In der Nacht schrie Mama Papa an, sie würde lieber verrecken, als zusehen, wie ihr eigenes Kind zu einem kompletten Vollidioten verkomme.

»Sogar ihr einziger Freund ist ein behinderter Schwachsinniger!«

»Schon gut«, sagte Papa, ich schaue mal zu Friedrich aus der Gebietsabteilung für Volksbildung.

Ungefähr eine Woche später lief ich, wie gewöhnlich, zu Serjoschas Mama und zeigte ihr zwei Finger. Nach dieser Geste brachte sie immer entweder Serjoscha zu mir oder mich zu ihm. Aber diesmal winkte Serjoschas Mama stattdessen mit der Hand ab und drehte sich weg. Ich weiß nicht, wie lange ich bei Serjoschas Tür saß und wartete, bis Nanny Schura mich holen kam.

»Da kannst du lange warten, Ljolik. Er ist in Kemerowo, im Internat. Unser lieber Herr Papa hat ihm dort einen Platz besorgt, hat im großen Stil seine Beziehungen spielen lassen.«

»Und was ist mit mir?! «

»Du gehst mit mir nach Hause. Jetzt gibt es gleich im Radio eine gute Sendung mit Liedern – Weiße Akazie heißt das.«

»Ich will keine Akazie! Ich will gar nichts! Papa soll mich auch in dieses Internat schicken.«

»Na sonst noch was. Dort sind doch nur Gehörlose. Sogar die Lehrer. Dich nehmen sie dort nicht.«

»Warum nehmen sie mich nicht? Ich kann auch gehörlos sein, das macht mir nichts.«

Zu Hause schlich ich leise weinend die Wände entlang. Vor dem Fenster loderte der Kohleschuppen im Hof wütend auf. Vom Dach dieses Schuppens waren Serjoscha und ich in den hohen Schnee gesprungen und hatten den fliegenden Jungen namens Ariel aus dem Buch von Beljaew gespielt. Feuerwehrleute in glänzenden Helmen werkten entschlossen um ihren roten Wagen herum und nahmen Anlauf zu dem brennenden Objekt. Im Radio hatten sie schon das x-te Mal feierlich verkündet, dass der Sowjetmensch es ins Weltall geschafft hatte. Alle riefen »Hurra! «.

In der Nacht wachte ich – fiebrig, verschwitzt und verwirrt – schreiend auf. Ich rief nach Serjoscha. In der Früh, als mir Nanny Schura einen weiteren trockenen Pyjama anzog, riss ich mich aus ihrem festen Griff los und lief mit einem Schrei in den Vorraum:

»Serjoscha ist wieder da!«

Papa hielt mich zurück.

»Jetzt beruhig dich, Ljolka! Genug gefiebert, da ist niemand.«

»Er ist hier, er steht vor der Tür! «

»Na gut, schau halt nach.«

Mein Vater schwang die Tür auf. An der Schwelle stand Serjoscha, schmutzig, mit zerrissener Hose, und lächelte.

MEHR FREIHEIT UND WENIGER DRUCK

Nun stellte ich mir vor, ich sei stumm und schwieg allen zum Trotz. Die Lehrerin hatte die Nase voll davon, für mich Extrawürste zu machen. Das sagte sie meinen Eltern gradheraus. So brachten sie mich zur Anmeldung in die »Deppenschule«. In unserer Stadt war das die Schule Nr. 48. Obwohl ich mir für gewöhnlich Zahlen und Daten furchtbar schlecht merken kann, habe ich mir diese Nummer für immer eingeprägt.

»Na, macht ja nichts. Dafür werden sie dich dort in Frieden lassen. Was soll man von einer beschränkten Sonderschülerin schon groß verlangen«, tröstete mich Nanny Schura.

Für diese Spezialschule musste man auch eine Aufnahmeprüfung machen. Ich kann mich noch an den langen Tisch in dem großen Saal erinnern, mit roten Transparenten an allen Wänden. Am Tisch saßen mindestens 15 Personen versammelt. Das war die Aufnahmekommission. Der Leiter war ein großer, dicker Glatzkopf. Ich fand, er sah Papas Freund Solomon Isaakowitsch ähnlich, einem irrsinnig netten Menschen, den alle Kinder Papa Solja nannten. Sein Anblick beruhigte mich. Ich sah ihm in die hellblauen, vom Fett wie zugeschwollenen Äuglein und lächelte.

»Ja, grüß dich!«, sagte der Glatzkopf.

»Grüßsie«, antwortete ich.

Mein Stottern hatte sich auf wundersame Weise in Luft aufgelöst.

»Also sag mal, warum redest du nicht?«

»Das muss sein.«

»Was muss sein?«

»Sonst komme ich nicht ins Internat nach Kemerowo, zu Serjoscha.«

»Und wer ist bitte Serjoscha?«

»Das ist mein Freund. Mein Freund heißt Serjoscha. Sie haben ihn ins Stummen-Internat geschickt. Er redet nämlich nicht. Und wenn ich auch nicht rede? Ich muss unbedingt dorthin.«

Aus mir sprudelte es wie ein Wasserfall. Ich schüttete diesem glatzköpfigen Onkel mein ganzes Herz aus. Er wackelte dazu nur mit seiner spiegelglatten Glatze hin und her. Und alle anderen in der Kommission lächelten mich an. Dann hob der Glatzköpfige die Hand und ich hörte auf zu sprechen.

»Haben Sie Fragen, Kollegen?«, wandte er sich an alle, die am Tisch saßen.

Eine sehr alte Tante mit der Stimme einer Ansagerin meldete sich zu Wort:

»Kindchen, kannst du lesen?«

»Ja, klar«, antwortete ich erstaunt.

»Lies uns das vor«, und sie zeigte auf die am nächsten hängende Losung.

»Die wichtigste Kunst für uns ist der Film. W. I. Lenin.«

»Tüchtig! Magst du gern Filme?«

»Ja, schon.«

»Was für Filme hast du schon gesehen?«

»AndrejkaDas AdlerjungeDer Schatz unter der PalmeDie HauptmannstochterFahrt über drei MeereFlaggen auf den TürmenDer KommunistPoem vom MeerEs geschah in Penkowo, …«

Es kam Leben in die Kommission.

»Und welcher von den Filmen, die du gesehen hast, hat dir am besten gefallen?«

»Der Kommunist«.

»Erzähl!«

»Also er musste dort Baracken bauen, als Vorarbeiter. Aber niemand arbeitet, und er sagt ihnen: Was sitzt ihr hier blöd rum? Und sie zu ihm: Wir haben keine Nägel. Also fährt er zu Lenin um Nägel. Lenin gibt ihm Nägel, er lädt sie in die Dampfeisenbahn und bringt sie dorthin. Aber die Dampflok – Bamms! – bleibt mitten im Wald stecken. Er fragt den Lokführer: Was ist denn da bei dir kaputtgegangen? Und der sagt ihm: Nichts ist kaputtgegangen, das Brennholz ist aus.«

Sobald ich gespürt hatte, dass ich diesen Leuten gefiel, kam ich in Fahrt und erzählte die weitere Handlung, indem ich die verschiedenen Rollen einnahm, und stellte mir dabei vor, ich würde auf der großen Bühne stehen.

»Gratuliere!«, sagte der Mann, der aussah wie Onkel Solja, zu meiner Mama. »Sie haben ein wunderbares, harmonisch entwickeltes, aktives Kind.«

»Aber was ist dann mit ihr in der Schule?«, warf meine Mutti ein.

»Ja, die sind selber Idioten dort! Nehmt sie aus dieser musterhaften Kaderschmiede für Sakralgesang und gebt sie in eine normale Schule. Mehr Freiheit und weniger Druck auf die Persönlichkeit des Kindes. Ihr werdet sehen, was ihr selber dann für Freude an ihr habt!«

Zu Hause erwartete uns ein Haufen Leute in Feierstimmung. Papa war schon leicht angeheitert. Nanny Schura sah verweint aus. In der Wohnung machten Phrasen die Runde: »das zivilisierte Festland, Freiheit, Europa«. Papa sprang vor dem Klavier auf und ab und sang freudig:

Alle diese Sauereien

Dürfen jetzt in Asien bleiben!

Es war vollbracht! Unser Papa hatte die Versetzung von der westsibirischen zur Nordkaukasus-Magistrale durchgesetzt.

WENN SCHON KEIN BARITON, DANN EBEN PUSCHKIN

Warum waren alle so glücklich? Worüber freuten sie sich? Wegfahren und wieder zurückkommen ist schön. Zurückkommen ist immer schön, wenn man dich schon vermisst hat und sich freut, dass du wieder da bist.

»Nanny Schura, hast du deine Sachen schon gepackt?«

»Und ob.«

»Möchtest du im Zug auf dem oberen oder auf dem unteren Klappbett schlafen?«

»Ach, Ljolik, ich werde kein Klappbett brauchen. Ich fahre hier mit der Straßenbahn zum Ring und in meine Baracke.«

»Wie bitte? Du willst nicht mit uns mitfahren?«

»Wie soll ich denn fahren! Ich würd‘ schon gern in den Himmel, aber mit meinen Sünden geht das nicht. Ich muss hier noch drei Jahre in der Kolonie bleiben. Ihr findet dort schon ein neues Kindermädchen.«

Dass ich Serjoscha nie wiedersehen würde, hatte ich einfach aus meinem Bewusstsein verbannt, aber auf den Abschied von Nanny Schura hatte mich niemand vorbereitet. Was für eine »andere«!? So eine wie Nanny Schura gibt es kein zweites Mal. Mit einer Balalaika und Buchstaben auf den Fingern, einer Narbe über der Braue und dem unverwechselbaren Machorka-Duft.

Unsere morgendlichen Kinobesuche – aus und vorbei. Heute würden wir zum letzten Mal in den Palast der Aluminiumarbeiter gehen. Es spielte den Blinden Musikanten. Und wer würde mir, ohne dass meine Eltern es wissen, Eis kaufen und dazu zwinkernd sagen: »zum Teufel mit den Mandeln«?!

Aus dem Blinden Musikanten kamen die Nanny und ich alle beide verweint raus.

»Na, siehst du. Ich bin wie dieser Mann mit der Schalmei für den blinden Jungen. Nur bin ich eine Frau mit einer Balalaika. Und du kannst zwar sehen, aber bist ein Mädchen. Und, damit du’s nur weißt, das ist schlimmer als ein blinder Junge. Denn bei einem Jungen schaut man noch, dass was draus wird, aber ein Mädel möchte man bloß schnell großziehen und loswerden.«

»Wein‘ nicht, Nanny Schura, aus mir wird noch ein Junge. Ich hab‘ das schon längst beschlossen, noch bevor du da warst. Nur jetzt ist das mein größtes Geheimnis. Und niemand wird mich loswerden müssen. Sobald ich groß bin, werde ich ein Mann und geh von selber. Dann komm ich und hol dich zu mir. Dann wohnen wir zusammen Herz an Herz in irgend so einer alten Bruchbude und trinken vor Kummer, so wie bei Puschkin«:

Trinken wir, du liebe Freundin

meiner armen Jugendzeit.

Trinken vor Kummer, wenn den Krug wir finden

wird uns leichter schon ums Herz.

Im letzten Jahr hatte ich meinen Horizont, was meine Zukunft betraf, erweitert. Wenn ich schon kein Bariton sein konnte, so würde aus mir zumindest ein zweiter Puschkin.

EIN HAUS AUF RÄDERN UND DIE ERSTE TOURNEE

Seit ich denken kann, konnte es Papa Mama nie recht machen. Ständig musste er sich rechtfertigen.

»Schon wieder sollen wir reisen wie die letzten Menschen?! Hätten wir keine Flugtickets kaufen können? Nach Rostow mit dem Flugzeug, und von dort ist es ein Katzensprung bis Bataisk und wir sind zu Hause.«

»Aber Liebling, wir sind doch schon zu Hause. Diese Garnitur fährt direkt zum Amt für die Nordkaukasus-Magistrale, zu den Bau- und Montagezügen. Du und ich sind ins Ministerium für den Bau von Transportwegen versetzt worden, und dieser Waggon wird bis zum Herbst unser Zuhause im Bau- und Montagezug Nummer 14 sein, bis wir in Bataisk eine Wohnung bekommen.«

Meine Schwester und ich hingegen waren glücklich. So glücklich, dass uns die ganzen Abschiede – sei es von Nanny Schura, von Serjoscha oder von Aljonas Kindergartenbeziehungen – nichts mehr ausmachten. Wir hatten ein Haus auf Rädern! Jeden Morgen machten wir in irgendeiner Station Halt, wo man die Waggons entlanglaufen konnte. Jeden Tag aßen wir, die ganze Familie, zusammen in den Bahnhofsrestaurants oder Stationsbuffets. Und alle hatten uns gern.

»Wer läuft denn hier herum? Wem gehören die Kinder?«

»Das sind die Kinder von Genosse Krause, dem Leiter der fahrenden Instandsetzungsgarnitur.«

»Ach so, die Kinder von Leopold Karlowitsch? Na kommt mal her, Mädels. Manja, mach mal das Mutter-Kind-Zimmer auf. Wir haben da ein Spielzimmer, das ist noch ganz frisch vom Vorjahr ausgestattet, hat noch niemand betreten.«

Während Papa mit seinen Arbeitern bei jeder Station den ganzen Tag mit Instandsetzungsarbeiten beschäftigt war, richtete Mama mit Hilfe eines ihr zur freien Verfügung zugeteilten Tischlers unser Heim ein. Und der alte Waggon verwandelte sich in eine gemütliche Zweizimmerwohnung mit Küche und Vorzimmer.

Papa war nicht ganz ehrlich gewesen zu Mama. Mit dieser Garnitur zog unsere Familie noch zwei geschlagene Jahre lang umher. Papa hatte einfach nicht dem Mut gehabt, Mama gleich die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit, dass meine Mama sich im europäischen Teil der Sowjetunion, mit Ausnahme der regionalen Zentren, erst nach Ende der Frist niederlassen durfte. Und die Frist war noch nicht aus.

Die ganzen zwei Jahre lang hackte Mama auf Papa herum. Papa musste sich ständig, wie er nur konnte, rausreden. Wahrscheinlich hasse ich seit dieser Zeit solche Auseinandersetzungen. Leute, lernt doch, euch dieses Lebens zu freuen, wie es uns gegeben ist. Dazu muss man seine Nächsten sorgsam behandeln. Versucht doch nicht, das Unmögliche aus ihnen herauszuschütteln, zwingt sie nicht, sich rauszuwinden und zu lügen.

Wahrscheinlich kehre Papa jeden Abend zu seiner Familie zurück wie nach Golgota. Während er den ganzen Tag an der Eisenbahnstrecke arbeiten musste, dachte Mama sich neue Vorwürfe aus. So wäre es noch lange weitergegangen, doch es kam der erste September.

Papa ernannte Mama per offizieller Anweisung zur Direktorin und Lehrerin der amtlichen Einklassenschule in unserem Zug. Da konnte Mama nicht mehr aus. Das Papier war abgestimmt und beglaubigt, und es war ein Stempel drauf von der Bildungsabteilung unseres Ministeriums.

Als Schulgebäude wurde uns ein Großraum-Schlafwagen zugewiesen. Hierher kamen noch zwei Jungen und ein kleines Mädchen zu uns dazu. Für den Unterricht suchte Mama drei Abteile aus. In einem saßen wir an einem verlängerten Tisch und schrieben die verschiedenen Aufgaben, die sie uns gab. Das kleine Mädchen lernte Kreise, Stäbchen und Quadrate zeichnen. In einem weiteren Abteil schauten wir Dia-Filme an und hörten alle möglichen Schallplatten auf der Musiktruhe. Im dritten waren Spielsachen für das kleine Mädchen. Alle anderen Abteile wurden zu Mamas Atelier. Sie begann wieder zu malen und ließ Papa in Ruhe. Das kleine Mädchen hieß Marusja. Meine kleine Schwester Aljonuschka nahm sie unter ihre Fittiche. Und ich – schloss mich dem Reigentanz der Jungs an. Sie hießen Rustam und Tyngiz. Sie brachten uns allen ein neues Liedchen bei, das wir gemeinsam sangen:


Eine Dampflok rast die Gleise

entlang, dann bleibt sie steh’n

Auf den Schienen da schnarcht leise

Ein Kätzchen, will nicht geh’n.


Die Lok sagt zu dem Kätzchen:

Was hast du hier verlor’n?

Da lacht es nur, das Kätzchen:

Kannst mich ja überfahr’n.


Da wird die Dampflok böse –

Klemmt’s Katzenschwänzchen ein.

Da wird das Kätzchen böse –

Und zerkratzt die Lok, oh nein!


Im Spital liegt jetzt der Zugchef,

Die Lok steht im Depot.

Die Katze sitzt am Zaun drauf

Näht sich’s Schwänzchen wieder an.

Dieses Lied wurde zur Hymne unserer Schule. Ab nun sangen wir sie im Freundeschor für alle, die uns in einer der weiteren Stationen entgegenkamen. Unsere Bahnhofs-Konzerte wurden zur Tradition. Mama gab selbst die Anweisung, dass wir an jedem Arbeitstag zu Mittag vor den Erwachsenen aufzutreten hatten. Ich sang Das AdlerjungeRoggen, und Wenn doch die Jungs aus aller Welt, und wenn es im roten »Herrgottswinkel« der Station ein Klavier gab, spielte ich einige der Übungen aus dem Lehrbuch von Gnessina. Die Jungs lasen mit wechselnden Rollen Lenin und der Ofenbauer, Marusja und Aljonka tanzten, von mir begleitet, Auf dem Feld stand eine Birke. So begann mein erster Tourneebetrieb.


MUSIK IN DER HOSENTASCHE

In einer Sache hatte unser Papa niemandem etwas vorgemacht. Wir kamen schlussendlich in Bataisk an. Was mit dem Rest des Zuges geschah, weiß ich nicht mehr. Eines Tages koppelte man uns einfach an einen völlig anderen Zug, der schon lange nirgends mehr hinfuhr, sondern im Abstellbahnhof Bataisk stand. Von einer Seite war ein weiterer Waggon angehängt, genau so einer wie unserer, der hieß »Frauenwohnheim«. An der anderen Seite begann eine ganze lange Reihe von Familienwaggons. Ob es ein Männerwohnheim auch gab, kann ich nicht sagen. Entweder gab es gar keines, oder es gab eines, aber nicht in unserem Zug. Das Frauenwohnheim hatte einen riesigen rötlichfarbenen Hund in Kost genommen, der Polkan hieß. Aljonka und ich schlossen mit ihm sehr schnell Freundschaft und bezogen ihn in all unsere Spiele mit ein. Dort waren auch andere Kinder, aber ich kann mich kaum an sie erinnern, weil wir in diesem Zug nur ein paar Monate lebten. Ich weiß nur noch, dass die ganze Kinderschar hauptsächlich unter unserem Waggon und unter dem Wohnheim spielte. Der restliche Raum unter den Waggons war mit Hühner- und Kaninchenställen belegt, ein paar Leute hielten auch Schweine.

Das war also dieser legendäre Bau- und Montagezug Nummer 14, der so lang das Ziel all unseres Strebens gewesen war. Papa wurde zum Bauleiter ernannt. Mama hatte sich zunächst schon auf Papa eingeschossen und meckerte, dass er weder Chef der Brigade noch Hauptingenieur war, sondern nichts weiter als Bauleiter, aber bald hatte sie der Reiz eines stabilen Lebens überzeugt, und sie ließ von ihm ab.

Papa fuhr jetzt regelmäßig beruflich ohne uns fort. Dafür brachte er uns von all seinen Reisen Geschenke mit. Eines Tages schenkte er mir eine Mundharmonika, und ich nahm ich sie nicht mehr aus dem Mund. Die erste Melodie, die ich spielen konnte, war das Lied vom Trommlerjungen. Danach folgten alle neapolitanischen Lieder aus dem Repertoire von Robertino Loreti. Dann Der wagemutige Chas-Bulat und die übrigen russischen Melodien. Den Kindern gefiel das. Wir spielten fortan nur mehr mit Mundharmonikabegleitung.

Die Mundharmonika. Meine Mundharmonika. Meine Freundin unter dem Kopfpolster. Besser als eine Geige und natürlich besser als jedes Klavier. Musik in der Hosentasche. Musik, die immer bei dir ist. Wenn nur irgendjemand geahnt hätte, was für ein Unglück sie über mich bringen würde. Aber noch war kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Nur Polkan reckte seine mächtige Schnauze und heulte zu meiner Musik. Er allein spürte das drohende Unheil herannahen.

ANDERE SCHULE, ANDERE PROBLEME

Wir lebten noch im Waggon, als es wieder erster September war, und Mama meine Schwester und mich in die Schule brachte. Für mich war es nicht das erste Schuljahr, aber Aljonka war eine waschechte Tafelklasslerin. An diesem Tag erfuhr ich die sensationelle Neuigkeit, dass ich – anders als all meine Klassenkameraden – keine Pionierin war.

Wären meine Eltern einfacher gestrickt gewesen oder einfach etwas findiger, dann hätten sie mir einfach einen roten Fetzen um den Hals gehängt, und alle hätten das als gegeben angesehen. Aber nicht mit uns! Und da ging es schon los:

»Wo ist denn dein Halstuch?«

»Ich hab ‚ keins.«

»Warum?«

»Ich bin nicht bei den Pionieren.«

»Und warum haben sie dich nicht bei den Pionieren aufgenommen?«

Ich wusste doch nicht, dass ich darauf antworten hätte sollen, dass es in unserer Einklassenschule im Bau- und Montagezug keine Pionier-Organisation gegeben hatte. Mir fielen stattdessen die verdammten drei Buchstaben ein, die ich irgendwann einmal in der Mittelschule der Stadt Nowokusnezk an die Tafel geschrieben hatte. Der einzige Unterschied war, dass ich damals die Buchstaben nur geschrieben hatte, wohingegen ich sie jetzt laut und deutlich vor der ganzen Klasse ausstieß. In dieser Schule gab es keine Strafbank. Sie warfen mich einfach aus der Klasse.

In den Gängen rumzulungern fiel mir nicht im Traum ein. Es war ein warmer und sonniger Tag. Bei der Schule war ein wunderschöner Apfelgarten angelegt. Die reifen, grellroten Früchte winkten verlockend von der dichten Baumkrone. Wie ich auf den Baum raufgekommen bin, kann ich nicht mehr sagen. Dafür weiß ich noch genau, wer mich von dort runterholte: Ein schlankgewachsener Kerl mit bereits etwas schütterem Haar. Das war der Hauptpionierleiter unserer Schule. Er hieß Viktor Alexandrowitsch. Wir verstanden uns sofort prächtig. Wahrscheinlich habe ich ihm damals meine ganze Lebensgeschichte erzählt. Zumindest kam es mir so vor.

Als meine Mutti kam, waren bereits alle Konflikte gelöst, und Viktor Alexandrowitsch erklärte, ich sei aufgenommen in die Schule der Hornbläser, und eine Pionierin würde ich dann gleich ab dem nächsten Fahnenappell werden.

»Es geht nicht an, dass die Tochter eines Frontkämpfers und Streckenbauers unter den Schwierigkeiten des Alltags von Bau und Montage zu leiden hat!«

In Mamas Augen traten Tränen der Begeisterung. So ein Bild von einem Mann, und muss als Pionierleiter versauern!

Bei meinem Schwesterchen hingegen war am feierlichen ersten Schultag rein gar nichts passiert. Auf alle Fragen à la »Na, wie war’s in der Schule?« neigte sie den Kopf und flüsterte leise: »Gut.«

Aber dann war Aljonka plötzlich weg. Gerade war sie noch da gewesen, hatte mit allen anderen Kindern im Apfelgarten gespielt, aber dann war sie verschwunden. Erst spätnachts holte man sie aus dem Schnellzug Rostow-Armawir, in dem sie wie ein Igel zusammengekauert gesessen war – in der festen Überzeugung, dass alle Züge, egal in welche Richtung sie fahren, am Ende in Sibirien ankommen, wo der gute, alte Kindergarten wartet und Nanny Schura, und wo es keine Schule gibt.

Am nächsten Tag brüllte Viktor Alexandrowitsch im Direktorskabinett wütend die Lehrerin meiner Schwester an: »Wie es aussieht, ist bei Ihnen alles so toll, dass es das Kind nicht ausgehalten hat!«

Ich freute mich für meine Mama. Sie musste sich keine Sorgen mehr um Viktor Alexandrowitsch machen. Er war nicht nur Pionierleiter, sondern auch der strenge Chef von allen Lehrern.

KAMPF DEM PRIVATEIGENTUM

Jeden Samstag war die letzte Schulstunde Hauslektüre-Unterricht und wir mussten Rechenschaft über die Bücher ablegen, die wir im Laufe der Woche gelesen hatten. Dazu wurden auch verpflichtend Artikel aus der Prawda der jungen Pioniere besprochen. In einer dieser Unterrichtsstunden organisierte Viktor Alexandrowitsch – unter Anwesenheit des Direktors und des stellvertretenden Schulleiters für den Lehrbetrieb – einen Disput über Privateigentum und das Gewissen der Pioniere.

Zur Besprechung lag ein Artikel über einen Jungen vor, der den ganzen Sommer lang mit seiner Mama und seiner Oma auf dem Markt Gemüse aus dem eigenen Garten verkauft hatte. Auf diese Weise hatte er genug Geld für ein Fahrrad und eine neue Schuluniform verdient. Besonderes Augenmerk legte Viktor Alexandrowitsch in dieser Diskussion darauf, dass der Junge sich ein Pionierhalstuch mit dem Geld gekauft hatte – dem Geld eines Privathändlers und Markt-Schacherers! Die Entrüstung unseres Lieblingslehrers schürte in unseren Herzen unbändigen Zorn. Als wir nach dem Unterricht nach Hause gingen, redeten Nina Iwanowa, Swetka Martschenko und ich uns über Walja Katsjuba in Rage, die zweifellos genauso eine Privathändlerin war wie der Junge aus der Prawda der jungen Pioniere.

Uns kam nicht in den Sinn, dass, während wir noch tief und fest in unsere morgendlichen Träume versunken waren, dieses Mädchen schon auf den Beinen war und die Kuh tränkte, fütterte und molk, um sie dann auf die Weide zu treiben und den Nachbarn Milch zu verkaufen, da ihre Mutter schon in der Arbeit war. Dann machte sie ihre jüngeren Geschwister fertig für Kindergarten und Schule, richtete ihnen das Frühstück, zog sie an und schnürte ihnen die Schuhe. Uns kam nicht in den Sinn, dass dieses ruhige, immer sauber gekleidete Mädchen mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen nicht so eine Kindheit hatte wie wir. Für uns war Walja Katsjuba in diesem Moment der fürchterliche Klassenfeind Nummer eins.

Und just in diesem Moment, als wir gerade am heftigsten über sie herzogen, lief sie uns über den Weg. Wir stürzten uns zu dritt auf sie, rissen ihr blind vor Wut ihr Pionierhalstuch herunter und die Schürze ihrer Schuluniform in Stücke. Unsere auslaufsicheren Tintenfässchen spritzten ihr ganzes Gesicht und die semmelblonden Zöpfe voll. Wir ließen nicht von ihr los, bis sie zu weinen begann. Glücklich und selbstzufrieden mit unserer »Heldentat« machte sich jede aus unserem Trio auf ihren Heimweg.

Und tatsächlich bestrafte uns auch niemand dafür. Nach einer Woche hatten wir den Vorfall vergessen. Nur Milch holen mussten wir jetzt ans andere Ende von Bataisk gehen und in einer endlos langen Schlange stehen, wo die Milch nicht mal für die Hälfte der Leute reichte. Die Mama von Walja Katsjuba hatte sich bei niemandem über uns beschwert, sondern einfach ihre Kuh verkauft. Ob wir daran schuld waren oder eine neue Anordnung von Partei und Regierung, werden wir nie erfahren.

MILCH HOLEN

Meine kleine Schwester Aljonuschka war krank, und der Arzt sagte, dass sie unbedingt Milch brauchte. Ich fand heraus, dass die Leute, die als erste in der Schlange um Milch anstanden, sich um fünf Uhr morgens in die Warteliste eintrugen. Ich hatte keine Uhr. Der Wecker gehörte Mama, aber die weigerte sich kategorisch, ihn so früh zu stellen. »Wir müssen abwarten. Wenn Vater von den Linienarbeiten zurückkommt, bringt er uns Milch.«

Da entschied ich, mich als allererste in die Warteliste einzutragen. Ich versuchte zu diesem Zweck nicht einzuschlafen, um bei Sonnenaufgang losgehen zu können. Aber drei Nächte hintereinander hatte mich der Schlaf übermannt, und ich war erst aufgewacht, als mich Mama aufweckte, und ich mich waschen, frühstücken und in die Schule gehen musste.

In der vierten Nacht wartete ich einfach ab, bis Mama eingeschlafen war, und kroch leise aus dem Fenster. Das Schwierigste war, über den Abhang und das aufgeforstete Waldstück bis zur beleuchteten Straße zu finden. Im Mondschein warfen Wind und Zweige ihre Schatten und versetzten mich mit meiner Einbildungskraft in Angst und Schrecken. Die Schreie der Nachtvögel, das Rascheln im Gebüsch …

Als ich es bis zum ersten Lichtkegel einer Straßenlaterne geschafft hatte, zitterte ich wie im Fieber. Der Rest des Weges war noch sehr weit, aber nicht mehr zum Fürchten. Die Hunde hinter den Zäunen bellten laut und diensteifrig an ihren Ketten, während die Straßenköter mit den Schwänzen wedelten und meine Hände ableckten. Meine rechte Hand hatte ich fest um ein Stück Schulkreide geschlossen, die ich brauchte, um meinen Namen auf die Tür des Ladens zu schreiben. Hier war sie, die langersehnte Tür. Nur die Kreide schreibt nicht, sie war nass – entweder von meinen schweißigen Händen oder von Hundesabber. Auf mein erfolgloses Kratzen an der Ladentür hin öffnete ein Wächter.

»Habt ihr den Verstand verloren? Es ist zwei Uhr nachts!«

»Na, ich will mich eintragen, aber die Kreide schreibt nicht.«

»Wem gehörst denn du, du Rohrspatz?«

»Ich bin die Tochter von Bauleiter Krause. Wir brauchen unbedingt Milch. Meine kleine Schwester ist krank.«

Der Wächter zog eine Kreide aus seiner Tasche.

»Hier, schreib und geh schlafen. Du bist die erste.«

»Und was, wenn mich wer weglöscht?«

»Das löscht niemand weg, ich sag der Verkäuferin, dass du als Erste gekommen bist.«

Auf diese Weise war ich die erste in der Warteliste. Die Milch brachten sie am Nachmittag, als unsere Frühschicht in der Schule zu Ende war. An diesem Tag brachte ich stolz eine Drei-Liter-Milchkanne in unseren Waggon.

»Etwas wässrig, diese Milch«, seufzte Mama. »Nicht zu vergleichen mit der, die wir von Katsjuba geholt haben. Aus der kann man weder Topfen noch richtigen Brei machen.«

MITTEN AUS DEM LIED GERISSEN

Viktor Alexandrowitsch war längst mein Idol. Besonders, als er mir persönlich das Horn direkt aus dem Pionier-Zimmer überreichte. Und zu den Pionieren nahmen sie mich noch vor den Oktoberfeierlichkeiten auf, gleich beim nächsten Appell. Obwohl ich mir diesen Schmarren mit dem Titel Feierliches Versprechen für Pioniere der Sowjetunion nicht merken konnte und stattdessen verzweifelt in feierlichem Ton eine selbst gedichtete Version von mir gab, aus der vom Original nur die Zeile: »Ich verspreche feierlich, die sowjetische Heimat heiß zu lieben, wie es die kommunistische Partei lehrt, und wie der große Lenin verfügt hatte« übriggeblieben war.

Unter Trommelwirbel banden sie mir das Halstuch um, vor mir standen die Pioniere unserer Schule in Reih und Glied. Nun grüßte ich auf dem Heimweg alle, die mir entgegenkamen, mit dem Ehren-Salut. Wie man das Horn bläst, hatte ich sehr schnell rausgekriegt: Man musste nur beherzt in variierender Stärke mit den Lippen ins Mundstück furzen. Dann kam mit etwas Glück eine bestimmte Melodie raus. Viel an Melodie brauchte es dabei nicht mal, sonst waren die Signale gleich nicht mehr den Statuten gemäß. Aber als Ersatz für meine Mundharmonika taugte das Pionierhorn nicht. Ich schleppte sie weiter in meiner Schürzentasche überall mit hin. Dafür, wie Viktor Alexandrowitsch bemerkte, war ich immer leicht zu finden. Wo die Mundharmonika war, war auch ich.

Wie ich so den Trampelpfad entlanghusche, über die Schienen der Zulieferstrecke für die Eisen- und Stahlaufbereitungsfabrik und weiter durch den Hohlweg, ist eine fröhliche, heldenhafte Melodie zu hören:


Wir schritten unter donnernden Kanonen

boten stolz die Stirn sogar dem Tod

Voran die Truppen sie schritten

von Spartakisten, von Kämpfern voll Mut …

Dort, wo der Hohlweg aus dem Wald ins Feld mündet, lauern sie mir auf. Ich komme nicht mal dazu, sie genauer anzusehen.

»Na, wer spielt denn da so schön auf dem Faschisten-Fotzhobel? Die kleine deutsche Faschisten-Fotze!«

Mir kam vor, dieser Alptraum würde kein Ende nehmen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Pfad die in den Boden getreten Stücke meiner Mundharmonika aufklaubte, wie Strahlen heißen Urins meinen zertrümmerten Schädel begossen. Eine Frau begann zu schreien, als ich – beide Hände zwischen die Beine gepresst, um das viele Blut aufzuhalten – auf sie zukam.

Als ich das Krankenhaus verlassen konnte, war es schon Winter. Wir lebten nicht mehr in dem Waggon, sondern in einem neuen Umgebindehaus am Rand des alten Forstgebiets. In diesem Haus waren noch drei Wohnungen mit noch drei Familien. In die Schule ging ich nicht mehr. Mama gab mir Hausunterricht.

Einmal kamen die Frauen aus dem Wohnheim, das an unseren Waggon angehängt war, und brachten uns Polkan.

»Der heult so ohne Ljolik …«

»Danke«, sagte Mama. »Es ist zwar ein weiteres Maul zu stopfen, aber es gibt so viele böse Menschen, und wir leben am Waldrand.«

»Ja, Sergewna, was für ein schreckliches Unglück! Und diese Unmenschen hat man immer noch nicht gefunden?«

»Nein, die gehen hier irgendwo umher. Vielleicht schauen sie mir sogar in die Augen.«


KLEINE KNOCHENMUSIK

Eines Abends, als Papa von der Bahnstrecke zurückkam und mit mir irgendein Lied vierhändig übte, kam Viktor Alexandrowitsch mit seinem Kumpel bei uns vorbei, der eine Fliegeruniform trug. Nebenan war ein Militärflughafen, und Fliegersoldaten zu sehen überraschte hier niemand. Während dieser Fliegersoldat irgendetwas mit meinen Eltern besprach, spielte Viktor Alexandrowitsch mit mir Dame und brachte dabei gleichzeitig meiner kleinen Schwester einen Kinder-Spottreim bei. Beim fünften Unentschieden zog Viktor Alexandrowitsch – mir nichts, dir nichts – aus seiner Westentasche eine hübsche kleine rote Schachtel, auf der in goldenen Buchstaben MusIndust Kuban geschrieben stand. »Hier, Ljol, du hast gewonnen.«

In der Schachtel lag eine nagelneue Mundharmonika.

Am nächsten Morgen kam Aljonka und mich ein kleiner Geländewagen abholen, in dem der gestrige Fliegersoldat saß, und neben ihm eine sagenhaft schöne junge Frau – seine Ehefrau und meine neue Lehrerin Soja Wassiljewna. Die vorige Lehrerin war in der Zwischenzeit in Karenz gegangen, und Soja Wassiljewna wurde nicht nur meine Lehrerin, sondern auch die Freundin meiner Mama. Wie sich herausstellte, hatte meiner Mama all die Jahre eine Busenfreundin schrecklich gefehlt. Das war alles, was es brauchte, damit in unserer Familie endlich Ruhe und Frieden einkehrten.

Jetzt kam der Garnisons-Geländewagen mit Soja Wassiljewna uns jeden Morgen abholen, und jeden Abend kamen wir gemeinsam heim. Oft kam Viktor Alexandrowitsch mit uns mit nach Hause. Meine Mama lebte auf. Unsere kleine Wohnung in dem Umgebindehaus am Waldrand verwandelte sich in einen gesellschaftlichen Salon. Viktor Alexandrowitsch brachte sein Saxofon mit. Soja Wassiljewna spielte prima Klavier. Papa brachte von einer seiner Dienstreisen eine Musiktruhe mit, und Viktor Alexandrowitsch karrte einen ganzen Stapel Röntgen-Bilder mit Plattenaufnahmen von Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Frank Sinatra, dem Duke Ellington Orchestra, Glenn Miller, Miles Davis und Dizzy Gillespie an. Diese Röntgen-Schallplatten nannten die Erwachsenen »Musik auf Omas Knochen«.

Auf unseren Hauskonzerten durfte ich mit der Mundharmonika zur Musik improvisieren oder auf einer umgedrehten Pfanne mit einem Schaumquirl oder einem Löffel im Takt trommeln. Das war der Zeitpunkt, als meine Faszination für Jazz überhandnahm. Mir gefiel, dass man immer etwas Eigenes einstreuen konnte, aber trotzdem nicht aus der Reihe tanzte. Und was das Beste war: ich konnte zu all diesen Aufnahmen nicht nur im Gleichklang dazu winseln, sondern mit meiner Stimme Nebenthemen zum Leben erwecken, Duette, Trios oder einfach eigene Liedchen zu den bekannten Orchestrierungen erfinden. Wahrscheinlich erblickten damals meine ersten Lieder das Licht der Welt – noch ohne konkrete Texte, sondern bloß so, Abrakadabra, eine Auswahl von Tönen, dem amerikanischen Jazz nachempfunden. Schon damals gaben mir die Erwachsenen zu verstehen, dass man das nur zu Hause singen darf. Und in der großen weiten Welt draußen hält man sich lieber an Zwei Mädchen tanzen auf dem DeckAltes Ahorn und, wie könnte es anders sein, die Kinder aller Völker.

VERDORBENES LUDER

In Rostow am Don war ein fünfstöckiges Ziegelhaus errichtet worden für die Familien der Arbeiter unseres Bau- und Montagezuges. Für uns war es ein doppelter Feiertag: Zwanzig Jahre seit dem Tag des Sieges – und der Umzug. Natürlich kamen Viktor Alexandrowitsch und Soja Wassiljewna mit ihrem Fliegersoldaten. Alle amüsierten sich irgendwie auf traurige Weise – es war klar, dass die privaten Musikabende damit vorbei waren. Wo war Bataisk und wo Rostow – von öfters Hin- und Herfahren konnte da keine Rede sein.

In der neuen Schule ordnete ich mich mit den Fäusten ins Kollektiv ein. Die Oberlehrerin dort war von der alten Schule: Sie schritt mit dem Lineal in der Hand die Reihen auf und ab und haute jedem Hans-guck-in-die-Luft, der sich von der gestellten Aufgabe ablenken ließ, auf die Finger. Ich saß stockstarr auf meinem Sessel und ließ die Lehrerin nicht aus den Augen. Hätte sie gegen mich die Hand erhoben, ich wusste zwar nicht, wie, aber ich hätte das nicht auf mir sitzen lassen. Aber, im Gegenteil, die Lehrerin streichelte mir mit ihren steifen Fingern über den Kopf, als sie an mir vorüberging, und sagte dazu: »Krause ist ein tüchtiges Kind. Obwohl sie vom Land kommt.«

Ein anderes Mal verkündete sie in der Unterrichtsstunde: »Ihr seid alle Schleimer! Niemand von euch gibt zu, dass ihr mich nicht leiden könnt.«

»Neeeein!«, riefen die Kinder. »Wir haben Sie gern!«

»Aber Krause kann mich bestimmt nicht leiden. Stimmt’s, Krause?«

»Sicher«, antwortete ich. »Was gibt es auch für einen Grund, Sie zu mögen? Sie hauen mit dem Lineal um sich.«

»Dafür mag ich von euch allen auch nur Krause!«

Ihr Liebesgeständnis ging mir am Allerwertesten vorbei. Mir war nämlich klar, dass dieses Miststück überhaupt niemanden mögen konnte. Aber nach der Stunde passten mich die Mädchen aus meiner Klasse ab: »Was schaust du so eingebildet, du verdorbenes Luder?«

Ich fackelte nicht lange. Ohne ein Wort nahm ich mein Halstuch ab und steckte es in die Tasche. In Bataisk war mit dieser Geste alles gesagt. Alle wusste, dass man das Pioniertuch ablegte, wenn man eine Rauferei beginnt. So hatte es uns Viktor Alexandrowitsch beigebracht. Aber meine neuen Klassenkameradinnen kannten das nicht.

Abends kamen die Mütter dieser Mädchen zu uns nach Hause, um mit meinen Eltern ein Hühnchen zu rupfen. Ich hörte, wie sie das ganze Stiegenhaus zusammenschrien, meine Mama solle ihr »verkommenes Ding« von den anständigen Mädchen fernhalten. Mama fing als Antwort nur bitter zu weinen an. Als Papa von der Bahnstrecke zurückkam, trocknete er ihr lange die Tränen. Und die Familie entschied, dass es Zeit war, von hier fortzuziehen.

Als die Sommerferien begannen, brachte uns Vater nach Odessa, wo wir, wie wir es gewohnt waren, in einem Waggon lebten, am Meeresufer, irgendwo in der äußersten Peripherie. In Odessa selbst lebte eine Tante von Mama, die leibliche Schwester von Mamas Papa, meinem Opa Serjoscha, Oma Ljolja. Obwohl, als ich versuchte, sie Oma zu nennen, schnitt sie mir sofort das Wort ab: »Ich bin für niemand eine Oma. Wir sind Namensschwestern, also nenn mich auch so.«

ODESSA, MARGOLIN UND DAS THEATER

Meine Namensschwester war Balletttänzerin. Namensschwestern waren wir übrigens auch nur laut meinem Spitznamen im Kreis der Familie, nicht nach der Geburtsurkunde. Und Balletttänzerin war sie im Jahre Schnee gewesen, aber mit all ihren Posen, egal, ob sie saß, lag oder stand, gab sie zu verstehen, dass sie eine Bal-le-ri-na war. Mama fuhr sie nicht gern besuchen, aber in unserer Lage hatten wir keine Wahl.

Der Ehemann der Ballerina war Choreograph im Musikkomödientheater von Odessa. Sie nannte ihn »mein Margolin«. Wie er wirklich hieß, sollte ich nie erfahren. Schade, denn das war ein feiner Kerl. Sie hatten keine Kinder. Es war Margolin, dank dem ich das Theater für mich entdeckte. Was hatte er in mir gesehen? Warum nahm er mich eines Tages einfach mit für den ganzen Tag ins Theater? Vielleicht bilde ich mir einfach zu viel ein, und sie haben ihn wegen irgendwelchen Umständen einfach nur dazu verdonnert, auf mich aufzupassen. Und ihm war nichts Besseres eingefallen, als mich zur Arbeit mitzuschleppen, wo es einen Haufen halbnackter schöner Frauen gab, die alle gern mit mir herumalberten.

Doch Margolin führt mich weiter, an den Frauen vorbei, in die Requisitenwerkstätten und zu den Bühnenbildnern. Dort übergibt er mich einer strengen Tante im Arbeitsmantel einer Putzfrau mit einem flachen Pinsel in der Hand.

»Pass bis zum Abend auf das Kind auf. Ihre Mama malt gerne. Gib ihr irgendwas.«

Die Tante hat gar keine Chance, zu reagieren, schon ist Margolin weg, und ich stehe mit offenem Mund vor der riesigen Leinwand mit einem altertümlichen Schloss, einem Garten und einem See. Wisst ihr noch, wie bei Tom Sawyer, der den Zaun anstrich, und alle beneideten ihn und boten ihm Geld an, damit sie auch mal Farbe und Pinsel halten dürfen? Genau, aber der war nur ein Zaunpinsler, und ich war den ganzen Tag eine Bühnenbildnerin im Theater. Und meinen Pinsel und die Farbe hätte ich um nichts in der Welt aus der Hand gegeben.

»Nimm diese Farbe und mal das mit diesem Pinsel hier und hier aus. Und hab‘ keine Angst – wenn du es verpatzt, kann ich es übermalen.«

Und ob ich malte! In genauso einen Putzfrauenkittel wie sie gehüllt, füllte ich eifrig alle Stellen aus, die mir die Tante zeigte. Als Margolin mich abholen kann, sagte sie zu ihm: »Du kannst sie morgen wieder herbringen. Das Kind hat eine feste Hand. Obwohl sie so ein dürres Ding ist. Und, was das Wichtigste ist: Sie ist beharrlich und quasselt nicht. Du weißt ja, dass ich keine Kinder mag, aber die kann gern bleiben.«

An diesem Abend saß ich mit meiner Schwester in der Theaterloge, wir schauten Die Bajadere. Am nächsten Tag, als wir mit den anderen Kindern zum Strand gingen, spielten Aljonka und ich am Meeresufer ein Theaterstück, in dem ich der Prinz war und Oh, Bajadere sang. Ich sagte meiner Schwester, dass ich, wenn ich groß bin, Bühnenbildnerin und -künstlerin werden wollte:

»Tagsüber male ich dann den Bühnenhintergrund, und am Abend singe ich in der Operette.«

»Und ich?«, fragte meine Schwester.

»Du kannst auch als Bühnenbildnerin arbeiten. Und dann kannst du auch noch Bühnenkünstlerin sein, so eine, die tanzt. Es können eben nicht alle singen. Jede von uns verdient dann zwei Gehälter, und wir können jeden Tag Halwa essen und Limonade trinken.«

MEINE LIEBE MUTTER UKRAINE, ICH BIN KEIN LUDER MEHR

Die ganze Zeit, als wir in Odessa waren, bemühe sich Vater aktiv darum, an die Dnepr-Eisenbahn versetzt zu werden und unsere Wohnung in Rostow gegen eine in Dnepropetrowsk umzutauschen. Dann musste er sich auch noch allein um den ganzen Umzug kümmern. Nach Rostow kehrten wir nicht mehr zurück. Wir waren ein bisschen zu spät dran für die Schule, als wir zu den Oktober-Feiertagen in Dnepropetrowsk ankamen. Ich hatte jedoch keine Probleme, zum Rest der Klasse aufzuschließen und mich einzuordnen. Schließlich wusste niemand, dass ich ein verdorbenes Luder war.

Ich musste erst in der Ukraine ankommen, um zu begreifen, in was für kargen Gegenden wir bisher gelebt hatten. Hier musste sich niemand noch in der Nacht um Milch anstellen. Es lagen genug Lebensmittel in den Ladenregalen herum. Und, was am wichtigsten war, Mama ging endlich arbeiten, und in der Familie herrschte eitel Glück. In Dnepropetrowsk hatten meine Eltern viele Freunde noch aus Studentenzeiten, aus dem Leningrader Institut für Eisenbahningenieurswesen. Vater musste nicht so oft zur Bahnstrecke fahren, weil er nicht mehr Bauleiter war, sondern Hauptingenieur.

Und wir hatten in der Schule einen Chor. Die Teilnahme dort war verpflichtend. In den Gesangsstunden wurde mit großem Ernst Musiktheorie und Musikliteratur unterrichtet. Wie die Gesangslehrerin und Chorleiterin im Vornamen hieß, weiß ich nicht mehr. Ihr Familienname war Golub. Die Kinder lachten ein wenig über sie. In Momenten der künstlerischen Ekstase dirigierte sie wie besessen und stampfte dabei mit einem Bein, sodass es äußerst komisch aussah.

Der Chor! Das wunderbarste und älteste Musikinstrument der Welt! Ein geschlossener, lebender, singender Organismus. Wahrscheinlich hatten meine vergeblichen Versuche, Männerstimmen nachzuahmen, dazu geführt, dass ich mich zu dieser Zeit als Mezzo-Sopran mit breitem Stimmumfang eingependelt hatte. Ich zog Koloratur-Parts ebenso durch, wie ich Kontra-Alt hinkriegte, aber in der Mitte war die Klangkraft immer noch am stärksten. Bei den Proben setzten sie mich deshalb immer dort ein, wo zu wenig Leute waren, und so lernte ich alle Vokalparts. Der Chor war mein Glück und mein Hochgenuss. Meine Begeisterung war unbeschreiblich, wenn unsere Stimmen zu einem gemeinsamen Akkord zusammenflossen. Außerdem verliebte ich mich in die ukrainische Sprache. Daran war natürlich Taras Grigorjewitsch Schewtschenko schuld.

Gemäß den damaligen Gesetzen hatte ich das Recht, mich von diesem Fach befreien zu lassen. Doch mein Vater fand, wie die meisten Russlanddeutschen, es wäre eine regelrechte Frechheit, als Teil eines anderen Volks zu leben, sein Brot zu essen, aber seine Sprache nicht zu kennen. Dafür bin ich ihm dankbar. Ich sah vom Unterricht „Befreite“, die mit stolz erhobenen Köpfen die Klasse verließen, als ukrainska mova begann. Nur habe ich nie verstanden, worauf die so stolz waren. Warum auch immer, unter diesen Befreiten waren weder Armenier noch Tataren, Juden oder andere nationale Minderheiten. Nur Russen stolzierten aus dem Klassenzimmer. Nein, nicht alle, nur die Kinder des militärischen Personals – derjenigen, die man im Volksmund moskali schimpfte.

Diese Überheblichkeit müssen jetzt Russinnen und Russen in vielen der neu gebildeten Länder im postsowjetischen Raum ausbaden. Jetzt wissen sie, wie kränkend es ist, sich als »Fremdvolk« zu fühlen. Die russischen Chauvinisten in Russland gießen indes Öl ins Feuer. Die interessiert das gar nicht, wie es den Russen in Tadschikistan ergeht, nachdem hier ein tadschikisches Mädchen ermordet wurde.

Ukraine! Mein Mutterland! Das ist eine Liebe, die für immer hält. Nach allem, was ich durchgemacht habe, hast du mich gewärmt und liebkost. Ich freue mich wieder des Lebens, singe und bin nicht mehr verdorben.
III. Jugend

TSCHIFIR

Wir lebten in der Bahnhofsstraße. Das Haus, in dem unsere Wohnung war, stand neben der Brücke über den Dnepr. Es gab einen grünen Hof, wo ich mit den Buben Räuber und Kosake spielte oder Verstecken. Im Hof gab es in den Sträuchern eine Gartenlaube. Als ich mich einmal in diesen Sträuchern versteckte, saß in der Laube ein alter Mann. Das war ein schwerer Junge – der bekannte Berufsdieb Tschifir. Alle Kinder hatten Angst vor ihm. Es gingen viele schreckliche Geschichten über ihn um. Hätte ich gewusst, dass Tschifir in der Gartenlaube sitzt – nie wäre ich in diese Büsche gekrochen. Jetzt saß ich da, halbtot vor Angst. Tschifir hustete bellend, spuckte Auswurf auf den Boden, rauchte Papirossy, zupfte dabei seine Gitarre und brummelte sich dazu in den Bart:

Ich traf ein Mädel

auf dem Weg ins Häfen

sie hatte Massel, die freche Gör‘.

Und ihr gefiel gleich mein Gaunerlächeln,

aus meinen Augen blitzte der Schalk.

Ich vergaß, dass man sich vor Tschifir fürchten musste, dass ich hier eigentlich nur Verstecken spielte, und, da mich bis jetzt noch niemand gefunden hatte, sie schon längst ohne mich weiterspielten. Vor mir saß dieser schlanke Alte im Unterhemd, sein Oberkörper war mit blauen Tätowierungen bemalt, und gab sich mit seiner Gitarre ohne Umschweife seinem Elend hin – für sich allein, ohne sich zu verstellen.

Und da gehen wir, wir Häfenbrüder

und ich muss fort, vielleicht für immer.

Aber du wein‘ nicht, meine Süße,

denn ich komm‘ wieder, und nehm‘ dich mit.

Die Welt stand plötzlich still und ich musste an Nanny Schura denken. Tschifir sang doch von ihr! Das war doch sie, die er verloren hatte!

Dann war die Haftzeit aus

Die Gauner geh’n nach Haus

Und ich sah wieder die geliebte Stadt.

So viele Frauen, die mir lieb sind

Aber die eine finde ich nicht mehr

Meine süße freche Göre mit ihren Augen so himmelblau.

Wenn das Nanny Schura hätte hören können, wie der sich wegen ihr zu Tode jammerte, die Flügel der Liebe hätten sie sofort zu Tschifir getragen! Ich musste gleich Mama um ihre Adresse fragen – für Tschifir. Er soll ihr einen Brief schreiben. Ich merkte selbst nicht, wie ich aus dem Gestrüpp auf die Veranda trat. Über mein Gesicht liefen Tränen. Tschifir sah mich an und bleckte sein Stahlgebiss:

»Na, du Hosenscheißerin, ziemlich mitreißend, meine Musik, was?«

»Mhm.«

»Bist aber ein bisschen klein, um dir solche Lieder reinzuziehen.«

»Nein, ich verstehe alles!«

»Na, dann hock dich hier neben mir hin, wenn du alles verstehst.«

So begannen meine ersten Gitarrenstunden. Ich hatte auch später nie mehr einen anderen Gitarrenlehrer.

OHNE MANDELN, MIT GITARRE UND KEIN JUNGE

Nach einem zu ausgedehnten Mai-Bad im Dnepr landete ich mit einer schlimmen Verkühlung im Krankenhaus. Dort nahmen sie mir endlich die Mandeln raus. Die Ärztin sagte, dass ich ohne Mandeln noch besser singen würde.

Nach der Operation schickten sie mich nach Eupatoria, zu meiner guten, alten Oma Claudia. Und endlich ging mein Traum in Erfüllung, den ganzen Sommer ohne Pause im Meer zu baden. Ich lernte tauchen und vertrieb mir die Zeit damit, Gobi-Fischen und Krabben nachzujagen. Nur eines drückte meine Stimmung: Ich bekam einen Busen. Und dagegen war einfach gar nichts zu machen. Die Knötchen unter den Brustwarzen schwollen an und schmerzten. Gegen Ende des Sommers konnte ich schon nicht mehr nur in Unterhosen rumlaufen, sondern musste mir ein Leibchen überziehen. Einen BH lehnte ich kategorisch ab. Wenn ich diese idiotischen Körbchen mit den Riemen dran nur sah, bekam ich Aggressionen. All meine geheimen und innigsten Wünsche gingen den Bach runter. Ich wurde zur Frau.

Währenddessen jammerte Oma Claudia nur darüber, dass meine Eltern sich nicht mehr um meine musikalische Erziehung scherten.

Als ich nach Hause kam, freundete ich mich weiter mit Tschifir an. Der Schulunterricht interessierte mich keinen Deut. Ich bekam überall schlechte Noten, nur in Russisch und Ukrainisch blieb ich Musterschülerin. Nicht einmal die Singstunden interessierten mich mehr.

Im Chor sangen wir Das Lied von der Heimat von Tulikow und den Glöckchenchor aus Mozarts Zauberflöte, aber auch mein Mezzo bereitete mir kein Vergnügen mehr. Nach Tschifirs verrauchtem Gekrächze waren all meine bisherigen vokalen Vorlieben wie weggefegt. Ich fing zu rauchen an. Da wir eine Raucherfamilie waren, gab es zum Glück keine Probleme mit der Papirossy-Versorgung. Ich rauchte heimlich, ohne viel Trara. Und wirklich wurde meine Stimme morgens etwas rauer, doch dann, im Chor, war mein Sopran wieder makellos.

Meine Eltern wollten mir partout keine Gitarre kaufen. Mama sagte, dass nur Knastbrüder auf der Gasse Gitarre spielen. Meine erste Gitarre klaute ich am Flusshafen. Matrosen hatten sie beim Landgang an einer Brüstung stehen gelassen. Ich wartete nicht, bis sie sie holen kamen, sondern schnappte mir die Klampfe und rannte damit davon.

Eine Gitarre ist keine Mundharmonika. Die kannst du nicht einfach in die Tasche stecken. Auf der Gitarre waren DDR-Abziehbilder mit Portraits von jungen Frauen. Ich bearbeitete sie mit dem Schmirgel und trug auf die abgeschliffenen Stellen mit einem Wattebausch Ölfirnis auf. Den Eltern sagte ich, dies sei die Schulgitarre, die sie mir zum Restaurieren und Üben mit nach Hause gegeben hätten.

Jetzt hatte ich eine Gitarre. Und die älteren Mädchen freundeten sich mit mir an. Sie sagten mir geradeheraus: »Du bist ein klasser Bursche, Ljolkin, jammerschade, dass du ein Mädel bist.«

ZWEI HEFTE

Als Opa Serjoscha und Oma Nina zu guter Letzt endlich in Leningrad eine Wohnung bekamen, in Kuptschino, in der Bukarester Straße, fing Oma Nina im Kino Slawa zu arbeiten an. Sie verkaufte dort Periodika und Ansichtskarten. Uns schickte sie Päckchen mit interessanten Journalen. Am wertvollsten davon war für mich die Zeitschrift Horizont, der Schallplatten beilagen. Damals hörte ich das erste Mal Okudschawa. Zwei Lieder: Ein kleines Orchester der Hoffnung und Auf dem Weg nach Smolensk. Ich studierte diese Lieder sofort ein und zeigte sie Tschifir. Der schnäuzte sich lange und umständlich, dann sagte er: »Von der Weg-Etappe nach Smolensk hab‘ ich noch nie was gehört. Wie heißt der, sagst du? Bulat Okudschawa? Ein Georgier also. Ich frag mich, wo der wohl gesessen hat. Muss ich mal meine Spezis fragen. Vielleicht hat sich wer was von ihm in sein Heft aufgeschrieben.«

So erfuhr ich, dass Knackis auch Tagebuch führten – wie simple Schulmädchen. In diese Heftchen schrieben sie, wie die Mädchen, ihre Lieblingsgedichte und -lieder. Tschifir hatte auch so ein Heft. Ein großformatiges, dickes, abgegriffenes kariertes Schulheft mit eingeklebten Fotos von nackten Frauen. Die Frauen gefielen mir nicht mit ihren Hängetitten und zottelbärtigen Muschis. Es waren keine schönen Frauen. Aber die Gedichte und Lieder waren interessant. Da ging es weder um die Bauten des Kommunismus noch um die Weite der Heimat. Ein paar Sachen waren aus Spielfilmen. Aber beim Rest ging es mehr um Gefängnisausbrüche, Raufereien, Kartenspielen, und sehr viel drehte sich um Mama und den Staatsanwalt. Mit einem Wort: Gedichte und Lieder, wie aus dem Leben gegriffen. Besonders gefiel mir eines, das hieß Abschiedsmahl. Ein wunderschönes Lied. Ich lernte es auswendig und sang es den Mädchen vor.


Gezeit zieht faul im Bierpokal

ein Spitzenbild aus Schaum

Bei uns’rem letzten Abendmahl

Liegt Stille nur im Raum.

Dieses Lied gefiel den Mädchen am besten. Ich sang für sie auch von der schwarzen Rose:


Die schwarze Rose, Emblem der Sorge

Die schwarze Rose brachte ich dir nach Haus.

Beim ersten Treffen fehlten uns die Worte

Es war uns zum Weinen, doch die Tränen war’n aus.

Dann ging es weiter, wie er sie anbaggert, und sie ihn ganze Zeit bittet, aufzuhören, aber am Schluss kriegt er sie trotzdem rum.


Und die Hände zitterten

Und die Beine zitterten

Und ich hörte nicht mehr

»Hör auf!«

Tschifirs Heftchen erweiterte mein Repertoire enorm. Als meine Eltern mitbekamen, dass ich mit einem alten Kriminellen befreundet war, war es schon zu spät, um mir eine Szene zu machen. Tschifir musste ins Krankenhaus und kam nie wieder raus. Oma Nina und Opa Serjoscha kamen gerade rechtzeitig zu uns zu Besuch. Auf Mamas Panik hin sagte Opa kategorisch: »Merk dir eines, Natka, ein Berufsdieb würde nie einem Kind auch nur ein Haar krümmen. Die haben ihren eigenen Ehrenkodex.«

In diesem Sommer wurde mein Verhältnis zu Opa zu einer engen Freundschaft. Stellt euch vor, er konnte genauso gut Gitarre spielen wie Tschifir! Jeden Abend sangen wir einander alle Lieder vor, die wir kannten. Wie sich herausstellte, hatte ich aus Tschifirs Heftchen nicht nur die Gassenhauer aus der Gauner-Ecke gelernt, sondern auch Vertinsky, Jessenin und Apollon Grigorjew. Als Tschifir starb, richteten Opa und ich für ihn das Begräbnis aus. Es kamen noch ein paar Nachbarn aus unserem Hof. Tschifir hatte sonst niemand mehr. Das Geld für das Begräbnis legte die ganze Nachbarschaft zusammen. Sie sagten, das ruhige Leben in diesem Hof in Bahnhofsnähe sei die ganzen Jahre nur Tschifir zu verdanken gewesen.

In diesem Sommer erfuhr ich auch von Opas schwerem Schicksal. Vier Jahre vor dem Krieg, in Eupatoria, in ebenjener Militärsiedlung, hatten sie meinen Opa aus der Wohnung gegenüber von Oma Claudia heraus festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Er wäre auf den Minenfeldern im Strafbataillon verreckt, wenn er nicht einem seiner früheren Kadetten über den Weg gelaufen wäre. Nach Berlin marschierte mein Opa schon als Major ein. Seine Erinnerungen an die Stalin-Lager hatte er auch in einem Büchlein festgehalten – allerdings in einem ohne nackte Frauen.

EIN HINREISSENDES NICHT-BÜRSCHCHEN

Die Gitarre übte eine magische Anziehungskraft auf die Mädchen aus – die zog es in Scharen zu mir. Den wilden Kerl raushängen zu lassen gelang mir mühelos. Bei weitem nicht alle meine Bekannten wussten, dass ich in Wirklichkeit kein Junge war. Mein Traum von Puschkin hatte sich auf mystische Weise erfüllt. Nachdem ich die Zöpfe losgeworden war, fand meine Umgebung, ich sähe aus wie der junge Puschkin.

Ich persönlich machte damals schon eher einen auf Jessenin, textete am laufenden Band Liebeslyrik und fühlte mich verpflichtet, mir einen Ruf als dauerdichter Draufgänger zu erarbeiten.

In diesen Jahren hatten meine Eltern andere Sorgen als mich. Oma Nina hatte einen Schlaganfall erlitten, und Mama war zur Gänze in Leningrad hängengeblieben. Dort traf sie eine alte Studentenliebe und begann die Affäre mit ihm von Neuem.

Vater ließ meiner Schwester und mir endgültig freien Lauf. Als ich einmal frühmorgens stockbesoffen nach Hause kam, riss meinem Papa die Geduld, und er gab mir einen Faustschlag ins Gesicht. Die gebrochene Nase verlieh mir aber nur noch mehr burschikosen Charme. Ich war damals wirklich nicht leicht zu handhaben. Als schwierige Pubertierende war ich damals im Kinder- und Jugendzimmer der Miliz ein regelmäßiger Gast.

Der in der Stadt bekannte Choreograph Andrés Rodríguez arbeitete zu dieser Zeit an der Aufführung Danke für unsere glückliche Kindheit, du liebes Heimatland! Da er nach den Regeln des Sozrealismus erzogen war, suchte er Darsteller für die Rollen der verwahrlosten Straßenkinder unter den örtlichen Halbstarken. So kam ich über das Kinderzimmer der Miliz zu ihm. Ich glaube nicht, dass er in mir eine begnadete Tänzerin sah. Wohl eher hatte sich in ihm der Pygmalion-Instinkt geregt, und er formte aus mir, die ungeschickt wie ein Löffelbagger herumstakste, einen prima Travestie-Künstler. Ich tanzte bei ihm einen Zigeunerjungen, der für die Roten auf Spionage ging.

Andrés Rodríguez war eines der spanischen Kinder, die irgendwann aus dem faschistischen Spanien in die Sowjetunion gebracht worden waren. Seine jüngere Schwester Lida arbeitete als Ingenieurin im selben Projektierungsinstitut wie meine Mama. Als sie hörte, wie verwahrlost meine Schwester und ich waren, kam sie in unser Haus und begann sich ziemlich elegant, zart und unaufdringlich um unsere Erziehung zu kümmern. Auch wenn böse Zungen was Anderes behaupteten, lief zwischen ihr und meinem Vater nichts. Lida hatte großen Respekt vor unserer Mama und hing auf ihre Weise sehr an ihr. Und für Papa war Mama der einzige Lichtstrahl am Horizont. Er wusste von ihrer Leningrader Affäre und wartete geduldig, bis sie vorbeiging, denn es war eine äußerst aussichtslose Affäre.

Ich hingegen verliebte mich rettungslos in Lida, und das hielt mich für eine Weile von der Straße fern. Ich war eine künstlerische Natur. Aber so schwer von Begriff, wie ich nun mal war, und mit meiner angeborenen Ungeschicklichkeit, kostete es mich eine Heidenanstrengung, all diese Tanzschritte zu erlernen – das ganze Ausmaß der Misere kannte nur meine Schwester.

Andrés Rodríguez hatte mitbekommen, dass ich lieber zu Hause übte. Ich konnte es mir eben nicht erlauben, vor allen ein lächerliches Bild abzugeben. Er hatte das verstanden und zwang mich nie, ihm eine neue Bewegung sofort nachzumachen. Er wusste genau, dass ich es am nächsten Tag draufhaben würde, aber heute – nicht um alles in der Welt.

Die Premiere unserer Theateraufführung fand im Kulturpalast der Eisenbahner statt. Leicht schräg gegenüber von diesem Palast war das Taras-Schewtschenko-Theater des ukrainischen Dramas. Zur Premiere von Rodríguez kamen viele Schauspieler und allerhand andere Kulturschaffende, die uns danach, als sie sich über die Inszenierung unterhielten, lobten und subtil auf unsere Schnitzer hinwiesen. Als die Sprache auf mich kam, fragten sie Andrés Rodríguez, wo er so ein hinreißendes Bürschchen aufgetrieben habe. Unser Choreograf sagte darauf: »Dieses Bürschchen ist unbezahlbar. Weil es ein Mädchen ist! Ein Mädchen, das noch sehr lange so ein hinreißendes Bürschchen bleiben wird.«

Ich war im siebten Himmel.


BIBEL, KOMSOMOL UND SEXTRAINING

Papa nahm sich eine Hausangestellte. Die einfache, seelensgute Tante Frosja aus der Ukraine, die ständig Galuschki kochte und einmal in der Woche die Wohnung auf Weißglanz brachte, auf den Markt ging und in die Kirche. Sie hatte ein altes, dickes Buch mit dem Titel Bibel. Meinem Interesse für dieses Buch kam Tante Frosja mit Vergnügen nach. In die Bibel verbiss ich mich wie ein Kampfhund. Die ganzen Thetas, Jats und harten Zeichen [Schriftzeichen im Altkirchenslawischen, AdÜ] spornten meinen Ehrgeiz nur noch mehr an. Ich ging sogar mit Tante Frosja in die Kirche, ohne dass es jemand anderes erfahren durfte. Auf diese Weise war für mich das heilige Geheimnis des Sakraments nicht nur Schall und Rauch.

Der Dom, in dem Gottesdienste stattfanden, war damals hinter dem Gebietskomitee der Partei. Über das Gebietskomitee von Dnepropetrowsk hieß es damals: »In Gottes Schoß, hinter Lenins Rücken« – weil vor dem Gebietskomitee ein Lenin-Denkmal stand.

Damals schrieb ich bereits Lieder. Die Leute legten sich Tonbandgeräte zu. Viele hörten die Beatles und Wyssozki. Und ich ließ mich von all dem eben zu meinen eigenen Sachen inspirieren. Ich machte sogar bei irgend so einem städtischen Talente-Wettbewerb für Laienkunst mit, wo ich für ein Lied in russischer Sprache über einen Komsomolzen, der erschossen wurde, eine Auszeichnung bekam, und für das Lied in ukrainischer Sprache Boschewillja Judi (der Wahnsinn des Judas) zum Direktor zitiert wurde – wegen übermäßiger Beschäftigung mit Religion. Lange versuchten sie aus mir herauszupressen, wer mich denn so sehr in dieses Pfaffentum »hineinziehe«, aber ich verriet Tante Frosja nicht. Heute scheint diese engstirnige Beschränktheit absurd, aber damals nahmen sie mich wegen diesem »Unfug« nicht in den Komsomol auf. Dabei hatte ich mich doch nur für Geschichte interessiert.

Als Vater mitkriegte, dass ich mich für die Bibel interessierte, nahm er die Alben des Russischen Museums, der Eremitage und der Tretjakow-Galerie, die ich schon hundert Mal durchgeblättert hatte, aus dem Regal und sagte: »Diese Schildbürger von der Partei müssten viel früher aufstehen, um das Bibelthema loszuwerden. Mach dir nichts draus, dass sie dich nicht in den Komsomol lassen, wart nur ab. Du wirst die Schule als Komsomolzin abschließen, versprochen. Lass dich nur bloß nicht in der Kirche blicken. Wenn du zu deiner Mutter nach Leningrad fährst, kannst du von mir aus alle Dome dort abklappern.«

Zu dieser Zeit war mein Vater schon stellvertretender Direktor in einem Projektierungsinstitut. Er wäre längst Direktor geworden, wären da nicht seine Parteilosigkeit und der fünfte Punkt gewesen [»Punkt fünf« steht für die Angabe zur Nationalität in den Personaldokumenten – und die damit verbundenen Repressionen, AdÜ]. In die Partei wäre er liebend gerne eingetreten, er war im Herzen ein leidenschaftlicher Kommunist. Aber wegen diesem verdammten fünften Punkt nahmen sie ihn nicht.

Ich hörte mit neuerlichem Eifer die Schallplatten von Robertino Loreti rauf und runter und versuchte zu verstehen, warum man »denen ihre« Musik zu diesem Thema singen durfte, aber wir unsere eigene auf keinen Fall.

Das Interesse an der Schule hatte ich bis dahin gänzlich verloren. Meine Mitschülerinnen interessierten mich nicht im Geringsten, im Übrigen genauso wenig wie die älteren Mädchen aus den anderen Klassen. Ich hing lieber mit den Polytechnikum-Schülerinnen ab, die an mir Zungenküsse und anderes mehr trainierten. Eine dieser PTU-lerinnen sagte lauthals zu allen: »Ohne Ljolik hätte ich schon längst meinen Kirill betrogen. Aber so, mit dem Ljolik, fällt mir das Warten leicht, bis Kirjucha von der Armee zurückkommt.«

ZICKENKRIEGE UND FRÜHLING AM DNEPR

In die Schule ging ich nur pro forma. Die Lehrer hatten mich schon längst aufgegeben. In der Früh, vor dem Unterricht, spielten die Jungs im Schulhof Fußball. Ich hatte meine Künste als Torwart nicht verlernt. Meine Mitschülerinnen begannen sich schon für die Burschen zu interessieren. Da die Objekte ihrer Begierde meine Kumpels waren, fiel ihnen plötzlich ein, mit mir befreundet sein zu wollen. Aber für mich waren diese langweiligen Musterschülerinnen nichts, darum klappte es nicht mit der Freundschaft. Auch in mich verliebte sich ein Mitschüler. Er war der kleine Bruder von einem der Mädchen, mit denen ich damals Küssen übte. Er hieß Vitka Prochorow. So einer wie er konnte nicht mein Kumpel sein. Er spielte nicht Fußball und spielte keine Beatles-Cover auf der Gitarre. Er hielt sich immer abseits von unseren lärmigen Umtrieben. Er hatte einen angeborenen Herzfehler. Aber er war total gut in der Schule und half mir immer, mich durch die Prüfungen zu schummeln. Eines Tages setzte er sich einfach auf den Platz neben mir an der Schulbank und blieb dort einfach sitzen, obwohl unsere Mitschüler blöde Witze machten.

In unserer Klasse kochten unter den Mädchen irgendwelche Leidenschaften, aber mir fiel das alles nicht auf. Nur einmal, als ich in der großen Pause aufs Klo ging, wurde ich Zeugin einer grässlichen Szene: Einem Mädchen wurden die Arme hinter dem Rücken festgehalten, und die restlichen Mädchen, eine nach der anderen, spuckten ihr der Reihe nach ins Gesicht. Ich wollte der Ärmsten helfen, aber hatte keine Chance. Die anderen stießen mich einfach weg. Völlig baff von dem, was ich gesehen hatte, fiel mir nichts Besseres ein, als ins Lehrerzimmer zu platzen und dort von der Schwelle aus atemlos in den Raum hinein zu schreien: »Während ihr hier rumsitzt, machen die dort das

Natürlich setzten die Lehrer dem Alptraum auf der Toilette ein Ende und stellten Nachforschungen an, denn das Mädchen, das vor der weiteren gewalttätigen Abrechnung bewahrt worden war, war die Tochter einer hochrangigen Person unter den Arbeitern im Handel. Von mir hieß es gleich, ich sei eine Petze und ein Spitzel. Aber diesen Status hatte ich unter Mädchen, die mir im Großen und Ganzen scheißegal waren.

Am nächsten Morgen hastete ich, als wäre nichts gewesen, noch ganz hitzig vom Fußball vor dem Läuten in die Klasse, um mir über Shorts und Leibchen das verhasste Schuluniformkleid überzuziehen. Dort war nur Vitka Prochorow.

»Ljol, ich möchte dich warnen …«

Aber es war zu spät. Die Mädchen betraten die Klasse, Schadenfreude in den Gesichtern, versperrten mit einem Stuhlbein die Tür und machten sich an mich heran. Ich wehrte mich nicht mal. Unter uns Jungs war es das Letzte, mit Mädchen zu raufen. Sie ließen mir dieselbe Körperstrafe zukommen wie dem Mädchen auf der Toilette. Nur mit dem Unterschied, dass sie mir nicht die Arme hinter dem Rücken verdrehten, sondern sie einfach zwischen zwei Schulbänken einklemmten. Ich hörte nichts davon, was sie währenddessen zu mir sagten. Ich schaute nur auf den armen Vitka, den es in einem stummen Weinkrampf schüttelte.

Als es läutete und ich mich endlich aus dem Zangengriff der Mädchen losreißen konnte, lief ich Hals über Kopf aus der Klasse, aus der Schule. Ich lief und lief und schaute nicht, wohin. Ich kam erst wieder mitten auf der Brücke zur Besinnung, schnaufte kurz durch und ging dann langsam weiter, bis zum anderen Ufer hinüber. In meinem Kopf pochte rasende Wut, und irgendwo im tiefsten Herzen machte ich mir Sorgen um Vitka. Aber in die Schule zurückzugehen kam nicht in Frage.

Draußen im Freien war zu spüren, wie sich der Frühling mit blühenden Trauben von Flieder durch die Zaunritzen zwängte. Ich ging bis zum Strand, versteckte mein Kleid im Gebüsch und warf mich in die Fluten des Dnepr. Das Wasser war noch kühl, aber zum Schwimmen ging es. Ich schwamm lange. Dann stieg ich aus dem Dnepr und ließ mich in den Sand fallen, wo ich sofort tief und fest einschlief. Ich schnarchte süß und ungestört unter dem Strand-Lautsprecher, aus dem es bereits zum zehnten Mal hintereinander in voller Lautstärke tönte:


Über dem Meer

über dem sanften Meer,

bist du bei mir

bist du ganz nah.

Und die Sonne scheint nur für uns beide

Und die Wellen singen uns den ganzen Tag.

Ein Wolfshunger riss mich aus meinen Träumen. Die fünfzig Kopeken für das Schulfrühstück hatte ich im Lauf ausgestreut. Beim Straßenbahnring verkaufte eine Frau heiße Beljaschi. Sie dufteten zum Anbeißen, aber waren für mich unerreichbar. Ich hatte mich keine drei Schritte von der verheißungsvollen Bude mit den Teigtaschen entfernt, als plötzlich eine frische, gelb glänzende Rubelmünze unter meinen Füßen knisterte. Mit einem Beljasch zwischen den Zähnen und zwei Kraut-Piroggen in der Tasche setzte ich mich in die Straßenbahn und fuhr nach Hause zurück. Erst zu Hause kam mir, dass ich ohne meine Schultasche gekommen war, und wo ich die gelassen hatte, wusste ich nicht.

VERBRECHEN UND STRAFE

Die Schultasche war zu Hause. Vitka Prochorow hatte sie gleich nach der ersten Stunde angeschleppt. Dieser ruhige, immer brave Musterschüler hatte zum ersten Mal den Unterricht geschwänzt. Zu Hause war Tante Frosja. Nachdem sie Vitka die Tränen getrocknet hatte, rief sie meinen Vater in der Arbeit an und Vitkas Mutter. Und als ich zu Hause ankam, war in der Schule schon ein Riesenskandal entbrannt. Vitka wurde von der Rettung geholt und ins Krankenhaus gebracht. Mein Vater war schwärzer als eine Sturmwolke. Tante Frosja bekreuzigte sich ständig und verneigte sich in Richtung einer leeren Ecke. Und Aljonka kniff wie Tante Frosja die Lippen zusammen und schluchzte auf Ukrainisch: »Wenn der Vitka jetzt stirbt, müssen unsere Lehrer ins Gefängnis.«

In mir stieg Ärger hoch. Was hatten denn die Lehrerinnen damit zu tun?

Am nächsten Tag begleiteten uns unser Papa und die Mama von Vitka in die Schule. Hätten sie das bloß nicht gemacht! Wir hätten uns sicher alles untereinander ausgemacht, ohne die Erwachsenen, aber so … Während die Eltern mit den Pädagogen im Lehrerzimmer wichtige Gespräche vom Stapel ließen, kam auf dem Korridor die Rädelsführerin unter den ganzen Mädchen, Verka Nudnaja auf mich zu, die bei der Hetze gegen mich das Kommando hatte.

»Na was? Hast deinen Papi zur Hilfe geholt? Scheiß-Spitzelin!«

In der nächsten Sekunde sah ich vor meinen Augen Blut auf die grünlichblasse Wand des Schulkorridors spritzen. Als man mich von Verka losriss, hatte sie schon das Bewusstsein verloren.

Dann brachte man mich irgendwo hin, stellte mir irgendwelche Fragen. Das habe ich mir alles schon gar nicht mehr gemerkt. Ich weiß nur noch, wie man mir sagte, dass Verka im Krankenhaus gestorben sei, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Allmählich, aber doch, wurde mir klar, dass ich eine Mörderin war. Aber ich empfand weder Reue, noch tat es mir leid um das ausgelöschte Leben. Meine Seele war bis zum letzten Winkel prallvoll mit einer solchen Schwermut, dass ich mich am liebsten einfach erhängt hätte.

Diese Schwermut sucht mich bis jetzt noch manchmal heim. Besonders, wenn jemand mit mir reinen Tisch machen möchte. Weiter möchte ich gar nicht mehr wissen, ob das ein guter oder ein schlechter Mensch ist, sondern ergreife einfach die Flucht. Ich habe panische Angst vor diesem Tier, das in mir sitzt. Jeder, der versucht, es aufzuwecken, ist mein Feind. Seit meiner frühen Jugend weiß ich, dass ich jemand umbringen kann – und um niemand umzubringen, ist es besser, davonzulaufen und nicht mehr zurückzukehren. Als ich damals zum Dnepr lief, hatte ich instinktiv richtig reagiert. Bei meiner Heimkehr war ich innerlich geheilt, aber Situationen lösen sich nicht einfach von selbst in Luft auf. Ein Hase, den man in die Enge treibt, kann einen Wolf töten oder sogar einen Luchs.

An den Gerichtsprozess kann ich mich nur vage erinnern. Ich weiß noch, wie übertrieben sich alle darüber aufregten, dass meine Augen trocken geblieben waren. Und an mein idiotisch freches Grinsen, als ich auf keine der Fragen reagierte. An die Eskorte kann ich mich auch kaum erinnern. Ich landete einfach irgendwann in einem altertümlichen Klostergemäuer in der Stadt Lwiw, in der Kriwonos-Straße, in der geschlossenen Jugendbesserungsanstalt Nr. 9, wo

Mädchen in blauen Arbeitsmänteln und blauen Tüchern auf dem Kopf in Kolonnen in die Kantine gingen, in die Nähwerkstatt und in die Unterrichtsklassen.

Den Arbeitsmantel konnte ich gerade noch verkraften, aber das Kopftuch verweigerte ich strikt. Egal, wie oft sie mir erklärten, dass ich gegen die Statuten verstoße und dafür bestraft werden würde, ich blieb stur, denn eine schlimmere Strafe als dieses Kopftuch gab es für mich nicht. Dann hörte ich, wie eine der Erzieherinnen-Tanten zur anderen sagte: »Da hat uns der Herrgott einen ausgewaschenen Rüden in unser Gärtchen geschickt. Pass mal auf, dass unsere Mädels nicht dem Lesbos zu frönen beginnen.«

Eigentlich hätten die Sorgen dieser Tanten unbegründet sein müssen. Ich hatte keine Gitarre und somit nichts, womit ich hätte Mädchen becircen können. Dann stellte sich heraus, dass es in dieser Anstalt einen Club gab, und in diesem Club gab es ein Blasorchester. Da machte sich die Hornistenschule in Bataisk bezahlt. Damals hatte ich schon so Einiges mit dem einfachen Pionierhorn getutet, und hier hatte ich sogar eine Trompete.

Frauen lieben mit den Ohren, und junge Mädchen umso mehr. Meine Zungenkusstrainings konnte ich bald wiederaufnehmen.

KABALE UND LIEBE

Während ich den Umgang mit der Nähmaschine erlernte und meine Wangen im Blasorchester aufblähte, war in Dnepropetrowsk ein verbissener Kampf um mein Schicksal im Gange. Vitkas Eltern waren sehr aktiv dabei, dann stimmte auch der Direktor des zentralen Feinkostladens mit ein, für dessen Tochter ich mich damals einsetzen wollte. Eine riesige Rolle spielte Andrés Rodríguez. Wie sich herausstellte, war die Choreografie für ihn eine Herzensangelegenheit. Heute nennt man das Hobby. Im richtigen Leben war er ein Kardiologe, spezialisiert auf Kardioneurosen und so weiter. Er arbeitete im Dnepropetrowsker medizinischen Institut. Psychologie war damals noch überhaupt kein Thema, aber er fand Fachleute, denen es gelang, die höheren Instanzen zu überzeugen, meinen Fall noch einmal neu aufzurollen.

Nach Hause zurück ließen sie mich im Herbst des drauffolgenden Jahres. Obwohl unsere Tante Frosja mir zu Ehren ein Festmahl mit Galuschki zubereitete, war ich über meine Rückkehr gar nicht froh. Dort, in Lwiw, hatte ich meine Liebste zurückgelassen. Wir hatten einander geschworen, für immer zusammen zu bleiben. Es war alles entschieden. Sie kannte eine Dame in Mukatschewo, die mir zu einem gefälschten Pass verhelfen würde, der mich als Mann auswiese, sodass ich meine Liebste würde heiraten können. Meine Liebste spielte Posaune. Gemeinsam rockten wir das Haus. Wie wir beide abgingen, wenn wir Tscheremschina spielten! Ich schrieb ihr Briefe. Ich wusste, wie man Briefe schreiben musste, damit sie dort drinnen beim Adressaten ankamen. Aber ich bekam keine Antwort.

Kurz vor Neujahr kam meine Busenfreundin Swetka Trojan frei. Wir hatten uns dort angefreundet, da wir aus derselben Stadt und sogar derselben Schule waren, sie ging in eine Parallelklasse. Swetka erzählte mir, dass meine Liebste sich sofort, nachdem ich weg war, ein neu angekommenes burschikoses Mädchen angelacht und die beiden schon vor einem Monat Hochzeit gefeiert hatten – und einander verspochen, dass sie, sobald sie in Freiheit wären, zu einer Dame nach Mukatschewo fahren würden, die ihrer Neuen einen gefälschten Pass besorgen würde, damit sie auch richtig heiraten konnten.

Ich ging mich besaufen. Am Morgen nach diesem kapitalen Besäufnis torkelte ich mit einem Jahrhundertkater in die Schule. Damit fiel ich auf gemeinste Weise unserer Schuldirektorin Valentina Fjodorowna Kukajewa in den Rücken, die mich ohne Umschweife aus einer solchen Anstalt mit zweifelhaftem Ruf wiederaufgenommen hatte, nach der man normalerweise nie wieder einen Platz in einer Regelschule bekam. Valentina Fjodorowna war einfach noch vor Kurzem meine Lehrerin in russischer Literatur gewesen und sorgte sich von ganzem Herzen und ganzer Seele um mich. Als sie Direktorin wurde, tat sie alles, was in ihrer Macht stand, damit ich meine Mittelschulbildung in vollem Ausmaß abschließen konnte. Mein Klassenvorstand Polina Israilewna Fejglina bemerkte rechtzeitig meinen Zustand, und es gelang ihr, mich auf direktem Weg ins Direktorskabinett zu schaffen, wo ich hinter versperrten Türen langsam zu mir kam. So drang der Vorfall nicht zu der stellvertretenden Schulleiterin für den Lehrbetrieb durch, einer langbeinigen Gewitterziege mit grell geschminkten Lippen, die mich inbrünstig hasste.

Als ich wieder alle Sinne beieinanderhatte, schwor ich diesen beiden wunderbaren Frauen, dass ich sie nie wieder in so eine beschissene Situation bringen würde. Und dieses Versprechen hielt ich.

Swetka Trojan und ich wurden noch dickere Freundinnen. Das lag auch an ihrer Mama, die irgendwann in ihrer Jugend auch unsere Anstalt in Lwiw besucht hatte und wie ein junger Gott Trompete spielte. Sweta und ich waren beide der Ansicht, dass wir auch in Dnepropetrowk einen Hehler finden würden, der mir einen Männerpass besorgen könnte. Dann würde ich Nana Tschajka höchstpersönlich heiraten – die war ein Prachtexemplar von einer Frau und arbeitete als Kellnerin im Restaurant Lux, in dem Swetas Mama abends auftrat. Nana gefiel es, mir durch die Haare zu strubbeln und mich zur Begrüßung auf die Lippen zu küssen. Dabei sagte sie: »Ach, du mein Hübscher!«

DER ABSCHLUSSBALL

In der Schule schrieb unsere Klassensprecherin – eine Musterschülerin namens Larissa – sorgfältig meine Gedichte, die ständig verstreut herumlagen, in ein eigenes Heftchen ein. Einmal, in der Umkleidekabine der Turnhalle, als ich dort mit ihr allein war, brach sie in Tränen aus:

»Ich bin nicht mehr normal! Ich hab‘ dich lieb, wie man nur einen Jungen liebhaben darf!«

»Nein, Larissa, mit dir ist alles in bester Ordnung. Ich bin nicht normal.«

Swetka Trojan und ich hatten längst unseren eigenen Ehrenkodex.

»Ich hoffe, du verdirbst nicht dieses ehrliche Mädchen?« Larissa war wirklich ein ehrliches Mädchen aus einer anständigen Familie.

»Na, komm schon, Sweta. Klar lasse ich die Finger von Larissa.«

Meine Mama kam angereist, um mich für den Abschiedsball herzurichten. Mama ging mit mir ins Atelier zu einem Schneider, um ein Ballkleid nähen zu lassen.

Swetka krümmte sich halbtot vor Lachen. »Du siehst aus wie eine beschissene Ziege, die man in eine Ziehharmonika gesteckt hat!«

Mir war nicht zum Lachen zumute. In der Strafkolonie konnte ich noch sagen, dass ich kein Kopftuch aufsetze, aber zu Hause konnte ich das nicht zu meiner Mama sagen, die extra dafür angereist war.

Mit Mamas Ankunft geriet im Haus alles aus dem Ruder. Meine Trompete warf sie einfach weg. »Eine junge Frau mit einer Gitarre, das geht ja gerade noch, aber mit einer Trompete!«

Klar, irgendwo und irgendwie auf ihre Weise liebte mich meine Mama und wollte nur das Beste für mich. Nur schnürten ihre Bemühungen mir den Atem ab.

Tante Frosja durfte samstags nicht mehr die Wohnung weißen. Sie war gerade dabei, Kreide mit Wasser zu strecken, als meine Mama sie anfuhr: »Sonst noch was! Du hast lang genug im Haus den feuchten Schimmel verbreitet. Das hier ist keine Lehmhütte!«

Tante Frosja wirkte verloren: »Und was soll ich jetzt stattdessen tun? Zusehen, wie sich die Wanzen und Kakerlaken hier einnisten?«

Mama schnitt ihr das Wort ab: »Jetzt hör aber auf mit dem Quatsch! Wanzen und Kakerlaken gibt es nur bei Alkoholikern und Schlampen. Wasch das Geschirr rechtzeitig ab, bewahr‘ die Lebensmittel im Kühlschrank auf und bring eben den Müll öfters raus.«

Tante Frosja weinte die ganze Nacht, bevor sie uns in der Früh verließ. Und meine Mama wartete nicht meinen Abschlussball ab, sondern machte sich schleunigst auf den Weg zurück nach Leningrad.

Der Abschiedsball war durch und durch ein Haufen Plackerei. Valentina Fjodorowna hatte mir aufgetragen, ein Gedicht zu schreiben. Das hatte ich gemacht. Aber mich vor allen Leuten in Mamas Ballkleid auf die Bühne zu stellen – das war mir zu viel. Andrés Rodríguez half mir aus der Patsche. Ich ging in einem weißen Frack aus der Kostümabteilung des Theaters auf den Ball. Vater kamen von meinem Gedicht die Tränen.

»So solltest du immer schreiben! Nicht, wie sonst, diesen haarsträubenden Schmus über die Liebe!«

Dann ging Valentina Fjodorowna lange eingehakt mit mir um die Schule herum und redete auf mich ein: »Ljol! Bitte enttäusch mich nicht. Du hast die Verhaltensnote ausgezeichnet bekommen, und auch deine persönliche Akte ist jetzt tipptopp. Als wäre nie etwas gewesen.«

Ich nickte und dachte dabei: »Ein falscher Pass kostet 350 Rubel, ein Militärausweis 270. Wie komme ich nur an so viel Geld?« Dieses Attest, von dem sie mir erzählte, war für mich wertlos. Ich hatte nicht vor, mich jemals wieder mit Dokumenten, in denen »weiblich« stand, an einer Lehranstalt zu bewerben.

UND WIEDER EIN CHOR

Was hatte ich mit dem Schulabschlusszeugnis in Dnepropetrowsk für Chancen? Die Theaterschule oder die philologische Fakultät an der Uni. Indes rief Mama ständig aus Petersburg an und insistierte, ich solle zu ihr kommen: »Ljolka, du musst dich beeilen. Die Aufnahmeprüfungen in die Schauspielschule fangen viel früher an als die in die restlichen Hochschulen.«

Andrés Rodríguez war dagegen:

»Dort kräht doch kein Hahn nach dir! Solche wie dich gibt es dort wie Sand am Meer. Hier hingegen kennt man dich schon. Na gut, wenn du durchgefallen bist, kannst du ja wiederkommen.«

Ich hatte Angst, das Larissa mich rumkriegen würde. Als sie mir anbot, gemeinsam für die Aufnahmeprüfung zu lernen, setzte ich mich in den Zug und haute ab nach Petersburg.

Nachdem ich gleich in der ersten Runde durchgefallen war – ich war zum Vorsprechen in Hosen erschienen – machte ich mir nicht viel draus, sondern beschloss, endlich Geld für meinen gefälschten Männerpass zu verdienen. Deshalb hatte ich keine Eile, zu Rodríguez nach Dnepropetrowsk zurückzukehren. Ich ärgerte mich sehr, dass er Recht behalten hatte.

Die Abende und Weißen Nächte vertrieb ich mir einstweilen damit, die Gitarre geschultert, um die Häuser zu ziehen, auf der Suche nach einer neuen Mädchen-Clique. Einmal setzte sich in der Straßenbahn ein Mann zu mir.

»Und, was spielen wir auf der Gitarre?«

»Nichts Besonderes, ich begleite halt meine Lieder.«

»Das heißt, du singst?«

»Ja, ich singe.«

»Singst du gut?«

»Den Mädels gefällt’s.«

»Na, so was, ein echter Kavalier. Komm mal zu mir zum Vorsingen. Hier hast du meine Karte, ruf vorher an.«

Der Mann streckte mir ein weißes Kärtchen mit aufgedruckter Adresse und Telefonnummer entgegen. Ich steckte die Karte in die Gesäßtasche meiner Hose und dachte nicht mehr daran.

Meine Mama setzte währenddessen ihren ausgeklügelten Plan um. Sie hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule durchfallen würde.

»Das heißt, es fehlt dir an Talent. Und nun reicht es mit dem Blödsinn. Ohne Beziehungen und mit deinen Kenntnissen kommst du jetzt nirgendwo unter. Also such es dir aus: Bontsch-Brujewitsch oder das Eisenbahn-Institut.«

»Ich geh lieber in die Fabrik lernen. Ich muss dringend Geld verdienen.«

»Und was soll das für eine dringende Not sein? Wenn du nicht zu studieren beginnst, musst du heiraten. Aber nicht jeder nimmt eine Braut ohne höhere Bildung. Das einzige As im Ärmel ist, dass du noch ganz jung bist.«

Und wieder schleifte Mama mich ins Atelier, um eine Braut aus mir zurechtzuschneidern. Da kriegte ich es mit der Angst zu tun, und mir fiel der Mann aus der Straßenbahn wieder ein.

Seine Visitenkarte war immer noch in der Hintertasche meiner bereits gewaschenen Hose. Die Telefonnummer war stellenweise weggewaschen, aber die Adresse konnte man noch entziffern: Chorlehranstalt der Staatskapelle. So machte ich mich auf den Weg zur Kapelle.

Ich fand das Kabinett mit einem Türschild, auf dem der Name dieses Mannes stand. Professor soundso. Mich empfing eine sehr nette junge Frau.

»Er ist jetzt nicht da, er ist in Taschkent, auf Dienstreise. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?«

»Er hat gesagt, dass ich zu ihm zum Vorsingen kommen soll.«

Das Mädchen wurde leicht stutzig:
»Aber wir sind eine Chorschule für Knaben.«

»Alles klar, bin ich wieder einmal verwechselt worden.«
»Ja, sieht so aus. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich höre Sie trotzdem an, wenn Sie schon hergekommen sind. Dann sehen wir weiter.«

Die junge Frau setzte sich ans Klavier, und ich wiederholte die Vokalisen, die sie vorspielte. Wir gingen von unten bis oben alles durch und wieder zurück.

»Wunderbar! Sie haben ein astreines Mezzo. Ich gebe Ihnen jetzt einen Zettel mit für Galina Wladimirowna Skopa-Rodionowa. Dort, neben dem Spartak-Kino ist eine Schule. In diesem Schulgebäude läuft die Aufnahme in die Chorlehranstalt für Erwachsene. Fahren Sie schnell hin, die Aufnahmefrist ist bald vorbei.«

DAS TALENT SETZT SICH SELBER DURCH

Die Aufnahmefrist in die Chorschule war schon vorbei, aber die Notiz aus der Kapelle wirkte Wunder, auch weil ich nach Noten singen konnte, vom Blatt. Galina Wladimirowna Skopa-Rodionowa entpuppte sich als eine sehr liebe Dame. Von ihrer prächtigen Koloraturstimme blieb mir die Spucke weg, aber sie sprach ihr Urteil:

»Ein solider Mezzo-Sopran, mit so einer Stimme kann man arbeiten.«

»Wo?!« rief ich freudig aus. Mir schwebte schon vor, wie ich im weißen Frack im Kulturpark auf dem Podium vor der Tanzfläche, begleitet von einem kleinen, feinen Jazz-Orchester, singen würde:

Schwarzer Kater lebt hinter dem Haus

Dem ganzen Haus war der Kater ein Graus …

Und alle Mädels könnten den Blick nicht von mir abwenden.

»Nirgends!«, holte mich Galina Wladimirowna zurück auf den Boden der Realität. »Ich meine, es hat Sinn, mit deiner Stimme in meiner Klasse zu arbeiten. Manchmal kommen zu uns Chorsänger aus der Kapelle, um ein Diplom zu machen, aber das sind in der Regel Männerstimmen. Aber mit dir, mein liebes, naives Kindchen, muss man noch arbeiten und arbeiten, damit du im Chor singen kannst. Die Träume als Solistin kannst du dir aufmalen, da ist zu wenig Kraft dahinter. Dein Aussehen würde passen für einen wunderbaren Lel, aber die Gesangspartie von Lel, die schaffst du nie. Zeig mir mal deinen Hals. Ach so, die Mandeln sind draußen. Das ist gut, gibt uns mehr Resonanz. Auf mehr brauchst du gar nicht zu hoffen. Wirst du bei uns studieren?«

»Ja.«

Eine Karriere als Chorsängerin war für mich alles andere als verlockend, aber die einzige Alternative war, stattdessen mein Dasein als Mamas Tochter im heiratsfähigen Alter zu fristen – da würde ich mir lieber die Kugel geben.

»Mama, ich wurde aufgenommen!«

»Wo!?«

»In einer Musikhochschule, in der Vokal- und Chordirigierklasse.«

»Lüg nicht, dort nehmen sie niemand ohne Musikschulabschluss.«

»Nehmen sie doch.«

Ich zog die auf Firmenpapier gedruckte Überweisung zur medizinischen Kommission hervor. Mama konnte das nicht stechen. Und als Opa verkündete, dass Galina Wladimirowna Skopa-Rodionowa eine berühmte Operndiva aus dem Leningrad der Blockade war, ehemalige Solistin im großen Kirow-Opern- und Musiktheater sowie Professorin für Vokal am Leningrader Theaterinstitut, sagte Mama: »Gut gemacht, Ljolka! Du bist auf dem richtigen Weg. Ich hab‘ es dir doch gesagt, wahres Talent setzt sich von selbst durch!«

Und ich zog los, mich weiter selbst durchsetzen. Auf der Rubinstein-Straße war das Haus der Volkskunst. Dort war der Theaterclub Subbota [russ. »Samstag«, AdÜ] untergebracht. Ich riskierte es nicht, mich als Schauspielerin dort anzubiedern, sondern trug mich als Bühnenbildnerin ein. Opa hatte mir ein Buch über Akimow geschenkt, und ich hatte es kapiert: Wenn man es vom Bühnenbildner zum Theaterregisseur schaffen konnte, dann umso leichter zum Schauspieler.

Dank meiner lieben Frau Mama konnte ich leidlich zeichnen. Aber die Mädchen, die mit mir gemeinsam ins Theater als Bühnenbildnerinnen gekommen waren, hatten das Zeichnen auch drauf. Es ruhte sich jedoch niemand von ihnen auf den eigenen Lorbeeren aus. Ich ließ mich von ihnen anstecken und brachte ebenfalls was weiter. Die Mädels führten mich ins Studio für bildende Kunst im Haus der Gesundheitserziehung zu Professor Suworow, dem bekannten Leningrader Graphik-Künstler.

Aber meine gigantischen Pläne krachten zu Beginn des neuen Schuljahres. Die Chorschule für Erwachsene wurde zu einer Schule für die Arbeiterjugend umgewidmet. Das bedeutete, dass man zwingend eine Arbeitsbestätigung vorlegen musste. Und im Studio für bildende Künste – eine Bestätigung, dass man einen medizinischen Beruf ausübte.

Ich wäre schon als Krankenschwester ins Spital gegangen, aber wieder einmal erwies sich das Kopftüchlein als Stolperstein. Nachttöpfe auswaschen und Scheißkübel raustragen – das hätte mir nichts gemacht, aber dieses Kopftuch aufsetzen – nur über meine Leiche!

Im Medizin-Institut hätte ich Nachtdienste im Leichenschauhaus gemacht. Dort wurde man jedes Mal in der Früh bezahlt, laut Kontrollblatt. Du zeigst den Pass her und kriegst das Geld. Wie alle anderen hielt ich am Morgen den Pass hin. Die Listenführerin machte Radau. Im Leichenschauhaus durften bei ihnen in dieser Schicht keine Frauen arbeiten.

Verzweifelt versuchte ich es im Grippe-Institut als »Versuchskaninchen«. Auch dort nahmen sie mich nicht: An mir war zu wenig dran. In der Psychiatrie hätten sie mich mit offenen Armen aufgenommen, und mir sogar ein Bett im Wohnheim angeboten, mit der Aussicht, später ein eigenes Zimmer zu kriegen. Aber die Arbeitszeiten – ein voller Tag, dann drei Tage frei – waren mit dem Studium unvereinbar. Der Unterricht bei Suworow fiel ins Wasser. Ich besuchte fortan das Mal-Studio im Kirow-Kulturhaus. Und für den Wisch für das Chorinstitut fing ich in einer Möbelfabrik als Transportkraft an.

FIRLEFANZ BLEIBT FIRLEFANZ

Vater rettete die Familie. Es gelang ihm, die Wohnung in Dnepropetrowsk gegen eine Wohnung in der Stadt Gatschina im Gebiet Leningrad umzutauschen. Das ist weniger als eine Stunde mit der S-Bahn von St. Petersburg. Mein Problem mit der ständigen Registrierung war gelöst. Denn Opa hatte Mama strikt verboten, mich bei sich in Kuptschino registrieren zu lassen. In der Möbelfabrik hätte ich natürlich auch eine limitierte Registrierung bekommen, wenn ich einen anständigen Beruf ausgeübt hätte. Denn eine Transportkraft war nur eine Art Möbelpacker, der auf einer Schubkarre die Einzelteile von einer Werkbank zur nächsten ausfuhr. Alle anderen Arbeiten waren im Schichtbetrieb, und mein Unterricht an der Chorschule begann um 18:00. Wenn gerade kein Chorunterricht war, ging ich ins Malstudio oder ins Theater.

In der Gatschina-Prawda wurde mein Gedicht abgedruckt:

Durch die Pappeln wuchs ich der Sonne entgegen

der Wind hauchte Jugend in mich hinein.

Ich wusste, es wird wieder Frühling geben

sein Festzug wird flammend undflüchtigsein.

Nicht Schäume war’n Träume, sie waren real

Mit der ganzen Stadt war ich per Du

Täglich erfand die Welt ich noch einmal

und tanzte Löcher in meine Schuh …

Für dieses Gedicht erhielt ich 15 Rubel Honorar. Nur meine Schuhe tanzte ich nirgends löchrig. Die ganzen Wochenenden gingen für mein Abonnement an Vorlesungen in der Eremitage drauf. Außerdem hatten wir noch von meiner Chorschule die Freikarten für die Kapelle und die Philharmonie.

»So ist es recht!«, freuten sich meine Eltern für mich. »Du hast genug Zeit mit dem Gauner-Genre verschwendet, jetzt ist es Zeit, sich aus diesem Firlefanz rauszuwursteln.«

Und ich wurstelte mich raus.

Vater trat den Dienst als Chefingenieur im staatlichen Institut für Transport-Signalisation und Nachrichtendienst GTSS an. Mit 45 seine Karriere zu opfern, um die Familie zusammenzuhalten, das hätte nicht jeder gemacht. Mamas Affäre flackerte indes mal auf, mal kam sie zum Erliegen, aber noch wollte sie kein endgültiges Ende nehmen.

Ich pendelte hin und her, rackerte mich ab und studierte, studierte und rackerte mich ab. In der Eremitage, als das Licht ausging und sie uns Dias vorführten, pennte ich weg wie ein Komapatient.

Meine Gedichte erschienen nun jede Woche in der Gatschina-Prawda. Auf diese Weise kam ich jeden Monat auf ein doppeltes Gehalt. Die Zeitungen mit meinen Publikationen brachte ich natürlich mit auf die Uni zum Angeben. Mein Vater gab damit auch an, auf seinem Institut, und meine Mama in ihrem Projektierungs-Büro.

In der Lehranstalt, in der Dirigierklasse, bei Frau Professor Pychalowa verdiente sich Nadeschda Petrowna Kurowskaja als Akkompagnistin etwas dazu. Einmal lud sie mich zu sich in ihre eigentliche Arbeit ein, ins Puppentheater Skazka [russ. »Märchen«, AdÜ] , wo diese nette Dame die musikalische Leitung innehatte. Ein eigenes Gebäude hatte das Theater damals nicht. Der Proberaum war neben dem Lensowjet-Theater. Sie führten damals gerade die Puppenoper Ach, Hanswurst nach Motiven von Puschkins Märchen auf. Dieser Hanswurst war mir alles andere als wurst. Stellt euch nur vor – Puppen, so groß wie Menschen, die gehen, tanzen und singen!

Bei Vater im Institut arbeitete Boris Potjomkin. Genau, der, dessen Lied Unser Nachbar, gesungen von Edita Pjecha, schon mehrere Jahre als Sowjet-Hit rauf- und runtergespielt wurde. Entweder, weil er keine Konservatoriums-Ausbildung hatte, oder aus irgendeinem anderen Grund, aber ihn hatten sie nicht in den Komponistenverband aufgenommen. Und er handelte nach dem Prinzip »Wenn der Berg nicht zu Mohammed geht« und gründete in diesem Haus der Volkskultur, wo ich im Theaterclub Subbota herumstreifte, den Club Pesnja [russ. »Lied«, AdÜ] , wo sich Komponisten wie er und Liedermacher trafen. Endlich hatte ich einen Ort gefunden, wo ich meine Gitarre hinschleppen und meinen »Firlefanz« singen konnte – sowas wie Die Katzen spazieren auf dem Karnies.

VOM MÖBELPACKER ZUM GRAPHIKER UND EINE GEHEIME LIEBE

Galina Wladimirowna kniff die Brauen zusammen: »Ich verstehe das nicht! Du hattest doch eine richtige Unterrippen- und Zwerchfellatmung! Woher? Woher kommt jetzt dieses Schlüsselbein-Geschnaufe? Bist du etwa ein Lastenschlepper im Hafen?

»Ja, Galina Wladimirowna. Zwar nicht im Hafen, aber ich bin ein Lastenschlepper.«

»Was sind denn das für Neuigkeiten?!«

»Naja, ich brauchte ja diese Bestätigung! Und bei mir ist es mit der Registrierung ein bisschen schwierig. Jetzt hat sich das offenbar geklärt, aber wozu den Job wechseln? Mit einer Registrierung aus der Provinz bieten sie einem nur Schichtarbeit an.«

»Und wo wohnst du?«

»In Gatschina.«

»Ach, ja, genau! Die drucken dich ja dort in der Zeitung. Und wo sind deine Eltern?«

»Bei mir.«

»Und wo arbeiten sie?«

»Sie sind beide Projektierungs-Ingenieure, die arbeiten in Leningrad, in Projektierungsinstituten.«

»Und wieso können die dich nicht bei sich unterbringen?«

»Die arbeiten von neun Uhr morgens bis sechs am Abend. Dann schaffe ich es nicht rechtzeitig hierher in den Unterricht. In der Fabrik arbeite ich von sieben bis vier, da geht sich das Mittagessen aus, und dann zu Ihnen.«

»Schmeiß diesen Job. Füttern dich deine Eltern etwa nicht durch? Eine neue Arbeitsbestätigung brauchst du erst nächstes Jahr. Außerdem fällst du nicht mehr unter den Paragraphen für Sozialschmarotzer, wenn sie dich ständig in der Zeitung abdrucken. Und bis nächstes Jahr findest du leicht Arbeit – zumindest als Musikerzieherin im Kindergarten.«

Eine weise Frau, diese Galina Wladimirowna! Zu Hause hatten sie dieses Gespräch mit Spannung erwartet.

»Ich habe so meine Zweifel«, sagte Vater, »dass irgendjemand in seinem Arbeitsbuch als Beruf Poet stehen hat. Aber schauen wir mal, sie werden dich schon nicht rausschmeißen, wenn du zum Unterricht zu spät kommst. Wenn eure Lehranstalt schon für die Arbeiterjugend ist, sollen sie auch die Güte haben, auf die Arbeiterjugend Rücksicht zu nehmen.«

In der Fabrik musste ich die zwei Wochen nicht abarbeiten, dank eines ausgefinkelten Kündigungsschreibens, das Papa Solja für mich aufgesetzt hatte – genau dieser Solomon Isaakowitsch aus Nowokusnezk. Nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt Leningrad war er jetzt ein Kollege von Vater. Das Wintersemester schloss ich mit Erfolg ab. Mit Jahresbeginn nahmen sie mich als Zeichnerin in Vaters Institut auf. Für jemand wie mich, dem jegliches Sitzfleisch fehlt, war diese Arbeit ein Alptraum. Beim Schubkarrenfahren und dem Auf- und Abladen von Brettern verging die Zeit wie im Flug. Aber vor dem Reißbrett zog sie sich bis in alle Ewigkeit.

Dafür gab es im Raucherzimmer in der Damentoilette einen Haufen hübscher Mädels. Ich aber musste mich just in eine grauhaarige vierzigjährige verheiratete Frau mit Kind verlieben, die nicht rauchte. Sie saß unweit von mir an ihrem Reißbrett und kam oft zu mir, um etwas auszubessern oder auch nur zum Aufmuntern. Dass ich eine gute Graphikerin wurde, habe ich nur ihr zu verdanken. Ansonsten wäre ich längst zurück zur Schubkarre gerannt. Sie hieß Cilia Josifowna Fradkina – und hatte keinen blassen Schimmer, welchen Platz sie in meinem Herzen einnahm und welche Rolle sie in meinem Schicksal spielte. Aber ich kann mich noch immer lebhaft an sie erinnern und liebe sie bis heute, ohne zu wissen, ob sie noch lebt. Ihr Sohn hieß, glaube ich, Schenja. Er studierte dann auf dem Pädagogie-Institut und wurde ein guter Physiklehrer. Woher ich das weiß, kann ich auch nicht mal mehr sagen. Aber dass aus dem Sohn von Cilia Josifowna und ihrem Gatten ein richtig guter Mensch wurde, stand außer Zweifel.

Borja Potjomkin hingegen sagte, es sei zu wenig, einfach das Reimen zu beherrschen, man müsse auch durch die Schule der Poesie gehen. Dann gab er mir eine Liste mit Literaturvereinen und den Dichtern, die dort jeweils das Sagen hatten. Mit dieser Liste in der Hand ging ich in der Institutsbibliothek die Gedichtbände durch und machte mich an die Auswahl. Das Rennen machte der Autor dieser wunderbaren Zeilen:


In dieser Stadt, die nicht den Tränen glaubt

gibt’s eine Frau, die glaubt den Tränen nicht.

Sie misst nur kalten Auges dein Gesicht

Du allein liebst sie – bad‘ es aus.

Sofort war mir klar, dass es da um meine hoffnungslose Liebe zu der älteren Arbeitskollegin ging, und trabte ergeben zum Kulturhaus der Seefahrer zu Semjon Botwinnik.

DER LITERATURVEREIN, EINE LEGENDE UND EINE HOCHZEIT

Als ich im Literaturverein bei Semjon Botwinnik reinschneite, mit einer dicken Mappe Gatschina-Prawda-Ausgaben unter dem Arm, und meine Werke dann mit stolzer Miene direkt von dort ablas, beeindruckte mein Pathos niemand der Anwesenden. Im Gegenteil, als ich fertig war und bedeutungsvoll Mamas Brille abnahm, die ich – ich war ja nicht kurzsichtig – nur mitgenommen hatte, um seriöser auszusehen, hoben meine aufmerksamen Zuhörer sofort an, mich im wahrsten Sinne in der Luft zu zerreißen. Ich war in die Mühlen von Alexander Komarow, Wladimir Bespalko, Wladimir Dobrjakow, Vera Muraschkina, Alla Aschtscheulowa, Dmitrij Tolstoba, Oleg Lewitan, Irina Znamenskaja und Olga Bischenkowskaja geraten. Botwinnik selbst schwieg und lächelte wohlwollend.

Als wir fertig waren, kauften wir gemeinsam Alkohol und fuhren zu einem der Leute nach Hause. Es kamen auch noch ein paar der Ehefrauen dazu. Die Runde erinnerte mich an die Feiern zu Hause bei meinen Eltern. Nur dass bei meinen Eltern Mandelstam, Achmatowa und David Samojlow gelesen wurde, hier jedoch las jeder seine eigenen Sachen vor. Ich war entspannt und in bester Stimmung und trug etwas vor, das ich von selber niemals der Zeitung angeboten hätte – und auch sonst nirgends:

Wer hat noch nicht, wer will ’ne Krüppelseele?

Nehmt, fast geschenkt gibt es die heute

Langt zu, Flaneure, feingemachte Leute,

Braucht ihr nicht eine Buckel-Krüppelseele?

Sie ist nur bucklig, das ist alles,

kein bisschen hin, verbeult oder zerknittert

sie ist verkrüppelt in die Welt geschlittert

weiß nicht, dass sie ein arger Fall ist.

Wer hat noch nicht, wer will ’ne Krüppelseele?

Die Hemdsärmel, sie flattern im Vorbeigeh’n

Ach, Muttilein das Spiel hast du verdorben,

doch nicht erwürgt, kommst zitternd von der Stelle.

Wer hat noch nicht, wer will ’ne Krüppelseele?

Der Welpennase nach läuft sie dir vor die Füße

Was machst du hier, du Untier, sollst es büßen!

Begoss’ner Pudel jault aus heller Kehle.

Hör auf! Dein Traum ist Schlangenfraß und Wahn!

Schweig, Ausgeburt des Teufels, vermaledeite

Du bist es, den der Wolf wittert von Weitem!

Wer außer dir hätt‘ dem Gerechten Übel angetan?

Wer hat noch nicht, wer will ’ne Krüppelseele?

Wär‘ gut als Vogelscheuch‘ im Garten zu gebrauchen

Müsst‘ dann nicht mehr im Hinterhof rumschleichen

und mich als Hauch der Angst im Nacken quälen.

Gib’s zu, du bist es, Schatten, Krüppelseele!

Meine neuen Freunde wurden still. Und Dima Tolstoba fragte: »Kennst du die hellenische Legende vom Hermaphroditen?«

»Nicht wirklich, aber ich weiß, wer das ist. Sowas wie eine Missgeburt mit zwei Geschlechtern, unterm Strich weder Mann noch Frau.«

»Na, das ist ja eine ganz schön primitive Sicht der Dinge. Der Sohn von Hermes und Aphrodite war ein Atlant, so wie der Zyklop. In der hellenistischen Version stammt von ihm die ganze Menschheit ab. Außerdem war er der Gott der Poesie, denn er hatte die Fähigkeit, mit doppelter Kraft zu fühlen: als Mann und als Frau. Also trinken wir auf unseren Gott!«

Und alle tranken im Stehen.

Gleich am nächsten Wochenende stand ich wie angewurzelt im griechischen Saal der Eremitage vor der Statue des schlafenden Hermaphroditen. Ich stand da und dachte: Wenn ich mit solchen konkreten Merkmalen auf die Welt gekommen wäre, würde das als Rechtfertigung für mich durchgehen. Aber so war ich nicht mal eine Missgeburt, sondern einfach nur pervers. Ein verkommenes, triebgesteuertes Miststück ohne jede Rechtfertigung. Warum leide ich dann so sehr, wenn das nicht mal Liebe ist? Ich liebe doch den Menschen, und nicht das, was sie unter dem Rock hat. Aber warum dann schon wieder unbedingt ein Rock? Man sagte, so etwas ließe sich im Irrenhaus heilen. Aber wenn ich aufhören würde, sie zu lieben, und fortan jemand anderen lieben würde, den zu lieben sie mir in der Klapsmühle eingeimpft hatten, wäre das dann noch ich?

Während ich so sinnierte, näherten sich dem schlafenden Marmorblock zwei gutaussehende Jünglinge, tauschten Ringe und küssten einander.

»Gratuliere«, murmelte ich automatisch.

»Ach du meine Güte! So ein hübsches Kerlchen! Was stehst du hier so traurig rum? Hat dich dein Freund verlassen? Mach dir nichts draus, der ist es nicht wert. Komm mit, wir feiern unsere Hochzeit! Wenn auch unfreiwillig, bist du trotzdem unser Zeuge.«

EIN ABENTEUER IM RESTAURANT UND MEINE DIENSTLAUFBAHN

Wir saßen im Restaurant Sever. Die Jungs wurden noch aufgeregter, als sie erfuhren, dass ich genaugenommen kein Kerl war.

»Solche wie dich, von denen gibt’s nur ein oder zwei.«

»Naja, vielleicht auch mehr, aber die tarnen sich alle: umrahmen sich die Augen, bepinseln sich die Lippen, wie sollst du da erraten, dass grad das die eine und einzige sein soll für dich?«

»Ich brauch eh keine. Ich liebe nur eine einzige Frau.«

»Und sie?«

»Die weiß nicht mal was davon.«

»Na dann riskier es und sag ihr, was Sache ist.«

»Das geht nicht, sie hat Mann und Kind.«

»Und ihr seid wahrscheinlich auch noch Arbeitskolleginnen.«

»Genau.«

»Ein Klassiker. Mein Jegorka hat mich auch in der Arbeit aufgegabelt. Da, schau mal, was für ein Prachtexemplar von einer Dame den Blick nicht von dir lassen kann. Und ihr Süßer starrt uns an.«

»Aber geh, Andrjuschenka, der schaut nicht uns an, sondern an uns vorbei. Auf diese beiden Schönheiten da hinten.«

»Und die Schönheiten wiederum stecken die Köpfe zusammen und tuscheln über unseren Ljolik. Na, sieh an, jetzt lächeln sie. Ljolik, schnell, geh und fordere die Mädels zum Tanz auf!«

»Was, beide gleichzeitig?«

»Nein, die, die sich anschickt, aufzustehen.“

Die, die aufstand, war Nadja, die am höchsten gewachsenen Frau im ganzen Restaurant. Aber ich hatte nicht die Szenen aus dem alten deutschen Musical Peter vergessen, die Andrés Rodríguez mit mir einstudiert hatte. Darum war es für mich kein Problem, mit großen Frauen zu tanzen.

»Du führst gut!«

»Ich bin in allem gut.«

»Nein, meine Liebe, bei meiner Freundin und mir steht was Anderes im Profil. Wir wollen den Schnuckel da hinten aufreißen, aber Baghira hat sich in ihn verbissen. Kannst du die bitte von ihm loskriegen? Die fährt auf solche wie dich ab ohne Rücksicht auf Verluste. Genauso wie Nina. Serjoscha, das Tigerchen, der hat sie bis aufs letzte Hemd ausgenommen, und sie rennt ihm immer noch nach und schmachtet!«

Ich begleitete Nadja galant zu ihrem Tisch und ging dann selber zu den Burschen zurück und berichtete ihnen von Baghira und ihrem Typen. Die Jungs lebten auf.

»Ljolik, im Herzen sind wir immer Schauspieler. Gib uns ein Stück, und wir spielen schon unsere Rollen!«

In Folge forderte Jegor Baghira zum Tanzen auf, Andrjuscha Nadja, ich die Freundin von Nadja, und mitten im Tanz wechselten wir die Partner. Keine fünfzehn Minuten später saßen Baghira und ich knutschend auf der Rückbank eines Taxis zur Adresse 8. Linie auf der Wassiljewski-Insel, wo sie ein Zimmer mietete.

Das erste Mal hatte ich nicht zu Hause in Gatschina übernachtet. Als ich am Morgen ins Institut kam, hatte ich ein ernstes Gespräch mit meinem Vater.

»Nungut«, schloss mein gestrenger Vater, »was kann man mit einer Bohème wie dir schon machen? Wenn du uns das Kind in den Kleiderschurz gewickelt bringst, werden wir es schon aufziehen.«

Bei uns im Institut arbeitete ein Bursche namens Kolja als Bühnenbildner. Wie viele Künstler in dieser Zeit begann Kolja zu trinken und zog irgendein krummes Ding durch, für das ihm die Kündigung nach allen Paragraphen drohte. Und weil Kolja, wie die meisten dieser Künstler, Parteimitglied war, war es umständlich, ihn zu kündigen. Papas Genossen-Kollegen lösten dieses Problem. Sie brachten mich zu Kolja und sagten: »Hier, Kolja, hast du die Tochter von Leopold Karlowitsch. Du bringst ihr zwei Wochen lang bei, Schriften zu malen, und dann gehst du aus eigenem Wunsch und mit reinem Parteibuch.«

Jeden Morgen unterrichtete Kolja mich ehrlich bis zu Mittag. Nach der Mittagspause wälzte er sich still hinter alten Transparenten am Boden, und ich sagte allen, Kolja sei gerade erst irgendwohin weggegangen.

Danach war mein Weg frei, und ich wurde rechtmäßige Hausherrin eines Künstlerateliers mit Balkon. Als erstes brachte ich meine Gitarre dorthin, und alle Mädchen aus unserem Institut verlagerten sich in den Rauchpausen zu mir.

EINE SCHWERE AUFGABE UND PERSÖNLICHER PATRIOTISMUS

Mein neuer Dienstgrad verpflichtete mich zu aktiver Beteiligung an der Gemeinschaftsarbeit, besonders im Komsomol. So schnell konnte ich gar nicht schauen, schon war ich als stellvertretende Sekretärin der Komsomolzen-Organisation unseres Instituts für Ideologie zuständig. Was waren meine Aufgaben in diesem Zuständigkeitsbereich? Eigentlich gar keine. Einmal kam ein Mädchen zu mir eine rauchen und sagte, dass sie eine Bestätigung für das Institut zum Studieren brauchte, aber in der Schule aus den Reihen der Komsomolzen ausgeschieden war und danach nirgends mehr eingetreten. Das ging schon fast zwei Jahre so. Es war ein hübsches Mädchen, und ich erinnere mich, dass sie als Schwimmerin für unser Institut das Team von

Metrostroj vernichtend geschlagen hatte. Da ging ich zu Wolodka Ionow, unserem Sportlehrer.

»Wolod, ist dieses Mädel nicht für uns angetreten?«

»Ja, die ist angetreten.«

»Sie hat jetzt ein kleines Problem.«

»Das heißt, wir müssen sie rückdatiert in die Liste nehmen. Wenn die Beiträge bezahlt werden, und für mich ein Fläschchen Portwein rausspringt, bringe ich das ins Lot.«

Und Wolodja brachte es ins Lot.

Ein halbes Jahr später bekamen wir die Order, dieses Mädchen bei der Komsomolzen-Versammlung ordentlich in die Mangel zu nehmen und sie feierlich, vor versammeltem Publikum, aus dem Komsomol auszuschließen, da ihre Mama und sie sich nach Israel abseilten. Dieses zum Himmel stinkende Spektakel sollte ich leiten, von A bis Z.

Das Mädchen beruhigte mich: »Jetzt mach dir keinen Kopf! Man muss mich sowieso ausschließen. Ich werd‘ doch nicht als Komsomolzin in Israel antanzen. Ich muss dort doch noch in der Armee dienen.«

Also machte ich mir auch keinen Kopf und ging einfach so auf die Tribüne hinaus.

»Grüß euch, Genossen! Alle wissen, in welcher Frage wir uns heute hier versammelt haben?«

»Lenka Rapoport ausschließen!«

»Genau. Lena, stehen Sie bitte auf. Unsere Lena ist eine Komsomolzin, eine Sportlerin, kurz gesagt, eine tolle Frau. Sie hat keinen einzigen Subbotnik im Komsomol versäumt, hat sich weder faul in irgendeinem Gemüselager herumgetrieben noch vor den Kolchosen gedrückt, sondern unser Institut fast drei Jahre lang im Schwimmen an der Spitze gehalten. Jetzt ist etwas Unumstößliches passiert: Lena und ihre Mama wollen nicht mehr als dreckiges Judenvolk und Kosmopolitenpack geschimpft in unseren Breiten, in einem Zimmer in einer überfüllten Kommunalka, leben. Sie wollen möglichst schnell dorthin, wo alle so sind wie sie, und niemand mehr ihnen unsere Wahrheit unter die Nase reibt. Vor diesem Hintergrund müssen wir Lena aus unseren Reihen ausschließen, damit sie in ihr heißgeliebtes Tel-Aviv fliegen kann ohne unnötigen sozialen Ballast.«

Tanka Krjukowa, die Protokoll führte, kam richtig ins Schwitzen.

»Ljolik, hab Gnade mit mir! Was soll ich schreiben?«

»Schau einfach im Protokollordner, was man gewöhnlich in solchen Fällen schreiben muss.«

Das war das letzte Mal, dass ich mit einer solchen Veranstaltung betraut wurde, und ich flog aus der stellvertretenden Leitung der Komsomolzen-Organisation, weil ich versagt hatte und dem großen Vertrauen nicht gerecht geworden war.

Und das, obwohl ich für unser Institut beim Laien-Talente-Wettbewerb folgendes Lied mit so viel Herzblut dargebracht hatte:

Jungens, Bürschchen, Sprücheklopfer

Mit nacktem Bauch und Hos‘ gestopfter,

Im Kopf tanzt Läuse frohe Runde.

Bist du wild vor Hunger oder sternvoll?

Bringst erst den Hetzer, dann den Raufbold.

Für welche Macht gehst du zugrunde?

Für die barfüßige mit nichts zu kauen,

Für die der Arbeiter, der Bauern!

Als Loch auf dem Flicken lügt keine Zunge.

Nichts zu verlieren heutzutage am Abend

Des Gegners Kugel hat zum Treffen geladen.

Den großen Krach, den gibt es heut.

Für jedes Männlein fein, ein Karabinerlein,

Marke Eigenbau, Schlagring, Messerlein.

Hey, Aurora, schalt ein das Sturmgeläut!

Jungens, Bürschchen, Sprücheklopfer!

Früh werdet ihr zu Todesopfern.

Blutrot rinnt es aus der Brust

Die Hungersnot vorbei schon,

Halbstiefmutter Rus-die Greisin.

Und vor euch liegt die Sowjet-Rus!

Als Gedicht wurde dieses Lied nirgends abgedruckt. Sie wollten von mir, dass ich weiter ausführte, wie wunderprächtig die sowjetische Rus denn nicht sei. Aber bei mir war in diese Richtung Endstation. Als Lied kam das Gedicht dafür super an. Ich bekam sogar irgendeine Auszeichnung für Laienkunst auf regionaler und dann auch auf Stadtebene. Und sie verpassten mir eine Urkunde mit Lenin-Profil, rotem Banner und den restlichen Insignien.

MISSRATEN, KEINE SCHAUSPIELERIN, OMAS TICK UND MEIN EHEMANN

In der Chorschule boten sie mir einen freien Platz im Chor des Leningrader Radios an. Ich war schon bereit, Hals über Kopf hinzustürzen, aber die Uniform, in der ich hätte singen müssen, ließ sich nie und nimmer mit meiner Vorstellung über mich selbst vereinbaren. Schwarzer Samt, nackte Schultern und Dekolleté – diese Kombination löschte schlicht und einfach meine Persönlichkeit aus. Und eine ausgelöschte Persönlichkeit bringt nicht nur keinen Mezzo-Sopran heraus, sondern kriegt überhaupt den Mund nicht auf.

»Aber du bist doch Schauspielerin!«, schrie meine Mama. »Das darf doch nicht wahr sein, dass du nach dem System von Stanislawski mit dieser Aufgabe nicht klarkommst!«

»Das heißt, ich bin keine Schauspielerin.« Ich machte mit den Fingern eine Geste, als würde ich mir eine Pistole an die Schläfe halten. »Da geb‘ ich mir lieber die Kugel, als dieses Kleid anzuziehen.«

»Wem du wohl nachgerätst, so missraten, wie du bist?«, sagte Vater schulterzuckend.

Oma Nina war nach dem Schlaganfall immer noch am Leben. Nur lebte sie jetzt die meiste Zeit auf der Udelnaja, im Irrenhaus. Wir alle besuchten sie der Reihe nach. Mir war nicht ganz klar, was mit ihr los war.

»Ljolik! Opa hat doch einen Kleiderschrank. Nimm ihn nach meinem Tod zu dir. Das ist mein Schrank, den habe ich mit meinem selbst verdienten Geld gekauft. Und nimm auch noch das hier und versteck es. Als Notgroschen für dich.«

Oma schob mir einen in Gold gefassten Smaragd, wie ein halber Daumen groß, in die Hand und schloss meine Finger darum.

Sämtliche Geschenke dieser Art gab ich beim Ausgang aus Omas Krankenzimmer Opa, den sie partout nicht mehr sehen wollte.

Bei Kingisepp im Gebiet Leningrad, wurde ein Kombinat für Phosphordünger – Fosfarit – gebaut. Natürlich arbeiteten dort vor allem Knastbrüder. Im Zentralkomitee des Komsomol ernannten sie Fosfarit zu einem Bauvorhaben des Komsomol, und unter der Schirmherrschaft der Leningrader Zeitung Smena machte sich ein Vorzeige- »Marschtrupp der Komsomolzen« auf den Weg dorthin. Die Order, sich ein Monat lang in die Reihen dieses Marschtrupps einzufinden, ging auch an unser Institut.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade eine intensive Liebesgeschichte mit einer Arbeitskollegin laufen. Anders als bei den vorhergehenden Variationen zu diesem Thema war diese Frau noch keine dreißig, und es war uns sogar irgendwie gelungen, es in der Touristenherberge zu tun. Aber danach behauptete sie, sie hätte eine vorübergehende Bewusstseinstrübung gehabt, und jetzt müsse sie dringend heiraten.

Ich zuckte damals ziemlich aus, rannte blindlings zur Fosfarit-Baustelle und heiratete den erstbesten langen Lulatsch, der mir dort über den Weg lief – nur, um es allen zu zeigen. Die Ehe besiegelten wir auf der Peter-Lawrow-Straße, der jetzigen Fuhrstadtskaja. Als Trauzeugin vonseiten der Braut bat ich – na, ihr wisst schon, wen. Dann feierten wir in der Wohnung meiner Eltern in Gatschina das Hochzeitsfest. Meine Herzallerliebste und ich schlossen uns im Badezimmer ein, wo wir ebenso heftig knutschten wie inbrünstig heulten, was wir blöden Gänse denn da angestellt hatten. Mein betrunkener Mann brüllte währenddessen vor der Tür: »Wo ist meine Braut?«

EIN NEUANFANG, HAUSWART IM ZENTRUM UND LIEBER NICHT AUFFALLEN

Allen Ernstes als verheiratete Frau zu leben, war undenkbar. Ich lief diesem armen Schönling nach drei Tagen davon. Aber wegrennen musste ich nicht nur vor ihm, sondern von überall, wo er mich hätte finden können.

Mein Leben fing wieder ganz von vorne an. Ich suchte mir eine Stelle in der Wolodarski-Papierfabrik als Arbeiterin an der Papierpresse. Die Arbeit war in drei Schichten, dafür verdiente man aber gut. Meine Liebste und ich mieteten uns ein Zimmer und begannen zusammenzuleben. Vater redete mir ins Gewissen.

»Warum hast du Vitka so rücksichtslos verlassen? Das ist doch ein guter Junge!«

»Ach, Paps, selbst, wenn er nett ist, ist das einfach nichts für mich. Es ist meine Schuld, aber ich will mit ihm nicht leben.«

»Das heißt, du hast dem armen Kerl den Kopf verdreht und das war’s? Du bist vielleicht ein Luder! Wann reichst du die Scheidung ein?«

»Ich hab‘ keine Eile. Wenn es ihm einfällt, dann wird er sie schon selber einreichen.«

»Aber er will dich doch sehen, mit dir reden …«

»Oh, nein, alles, nur das nicht. Sag ihm, ich bin eine Schlampe und das letzte Miststück. Sag, ich hab‘ Syphilis, Gonorrhoe und Lepra, alles auf einmal.«

»Also wirklich, du dämliche Göre! Er will dich bei sich in der Wohnung auf Dauer registrieren. Du weißt doch, was für Perspektiven sich mit einer Registrierung in der Stadt auftun.«

»Und wer soll für diese Registrierung jede Nacht mit ihm vögeln? «

»Weißt du, normale Frauen machen das gern. Du bist einfach ein dummes Mädel und noch nicht auf den Geschmack gekommen. Und dieser Eumel stellt sich wahrscheinlich nur ungeschickt an. Soll ich mal mit ihm reden?«

»Nein!!! Papa, wenn du mich nicht ganz verlieren willst, dann misch dich nicht ein. Denk dir einfach, dass ich missraten bin.«

»Du kannst dich wahrscheinlich schlecht dran erinnern. Du hast damals als Kind diesen Unfall gehabt. Das sollte sich mal ein Frauenarzt ansehen.«

»Papa, bitte lassen wir dieses Thema. Ja, ich hab‘ eine Riesendummheit geliefert und überstürzt jemand geheiratet, den ich nicht liebe. Der Frauenarzt kann da auch nicht helfen.«

Die Frau, die uns das Zimmer vermietete, war ganz verrückt nach uns. In ihren Augen waren wir grundanständige Mädchen, wie es sie selten gibt. Wir rauchten nicht (ich rauchte in der Arbeit so viel, dass ich zu Hause nicht mehr konnte und auch keine Lust darauf hatte) und tranken nicht. Ich wartete sehnlich, dass mein Mann von der Armee zurückkommt, und meine Freundin war hübsch und klug mit Hochschulbildung und arbeitete als Ingenieurin im Institut … So beschloss die Vermieterin, meiner Liebsten etwas Gutes zu tun, und sie mit einem ihrer Neffen zu verkuppeln. Ich mischte mich nicht ein. Komme, was wolle.

Es regnete Neffen. Jeden Abend ein neuer Neffe. Woher konnte jemand so viele Verwandte haben?

Meine Liebste flehte mich von alleine an, das Quartier zu wechseln. Aber wo wir auch hinzogen, dieselbe Kacke wiederholte sich. Und eine eigene Mietwohnung konnten wir uns damals noch nicht leisten. Das wurde es Zeit, dass ich Hausmeister wurde. In den Wohnanlagen ließen sie einen damals mit einer Registrierung aus den Regionen nicht arbeiten. So wurde ich Hausmeister im Gostiny Dwor und bekam ein achteinhalb Quadratmeter großes Zimmer in der Dumskaja-Straße. Unlängst bin ich dort vorbeigegangen. Jetzt ist dort irgendeine Einrichtung, aber damals war in der ebenerdigen Etage das Wohnheim für die Hauswarte.

Meine Liebste war selber aus Sestroretsk – einem Kurort in der Petersburger Vorstadt. Sie hatte auch schon mehr als oft genug die Schnellbahn genommen, und jetzt war sie auf einmal eine richtige Dame. Beide waren wir jetzt schicke Stadtzentrums-Bewohnerinnen, wenn wir vor die Tür gingen, waren wir schon auf dem Newski Prospekt.

Dieser Schick wollte natürlich hart erarbeitet sein, aber das war es wert. Dafür gingen jetzt von der Rubinstein-Straße vom Theaterclub Subbota und von Potemkins Club Pesnja alle meine Freunde bei mir ein und aus. Wir tranken Wein und reichten die Gitarre im Kreis herum. Nur meine Liebste lief ständig mit saurer Miene herum.

»Wärst du doch ein Maler!«

»Na, bin ich eh, aber mit dem Malen ist das so eine Sache: Ich kann es, aber das ist schon alles. Musik hingegen ist mein Leben.«

»Musik macht man öffentlich, aber du solltest schauen, dass du nicht auffällst. Alle sehen sofort, was du für eine bist.«

»Und was ist da so schlimm daran?«

»Und was ist gut daran!?«

MÄNNERPASS, HOCHZEIT UND VERBOTENER BRODSKY

Meine Liebste war bereit, mich ihr Leben lang zu lieben, aber im Geheimen. Unseren Freunden mussten wir sagen, wir seien Cousinen. Mir war das gar nicht recht, allein schon deswegen, weil uns ständig Männer anbaggerten. Diese Angebote passten so absolut gar nicht zu unseren Plänen, und wir mussten uns meist mit aller Kraft rauswinden.

Als ich wieder einmal die Perinnaja-Linie fegte und die Mülleimer ausleerte, fand ich ein in Plastik eingewickeltes Bündel. Darin waren Pass und Militärausweis eines dreiundzwanzigjährigen Mannes aus dem Gebietskreis Krasnodar. Er war Opfer eines Taschendiebs geworden und stand jetzt ohne Dokumente da, aber ich hielt es nicht für nötig, dem armen Tropf zu helfen und seinen Pass auf die Polizeiwache zu tragen.

Die Pässe waren damals grün oder blau, ich weiß es gar nicht mehr, und man klebte ein kleines Foto rein. Dieses Foto konnte man leicht austauschen, und das fehlende Eck mit Stempelfarbe nachmalen. In diese Pässe stempelte man auch auf den letzten Seiten seinen Arbeitsplatz hinein. Da war einer von einer Verarbeitungsanlage von irgendeiner Obst- und Gemüsesowchose.

Ein paar unbedeutende Änderungen – zwei-drei Ziffern in der Passnummer und einige Buchstaben in Familienname und Vatersname – reichten zu jener Zeit völlig aus, um dem Pass zu einem neuen Leben zu verhelfen.

Alles Weitere war ein Kinderspiel. Mit der Hilfe von befreundeten Schwarzhändlern für ausländische Klamotten, die mein Zimmer als Umkleide nutzten, wurde noch am selben Tag im regionalen Standesamt in Sestroretsk die Ehe zwischen meiner Herzensdame und mir geschlossen. Nun hatte meine Freundin einen Stempel im Pass, dass sie verheiratet war, und eine Heiratsurkunde. Dadurch warteten wir jetzt beide sehnsüchtig auf unsere Ehegatten – ich, dass meiner von der Armee zurückkommt, sie auf ihren von einer Dienstreise im Ausland. Auf jeden frechen Angriff auf unsere Würde echauffierten wir uns nun zu zweit.

Wie oft habe ich versucht, meine Liebste dazu zu überreden, sich irgendwo zum Aufbau des Kommunismus anwerben zu lassen, und, dem Beispiel meiner Eltern folgend, danach mit etabliertem Lebenslauf und dem zusammengekratztem Kapital für eine Genossenschaftswohnung auf das »Festland« zurückzukehren.

Aber sie sagte darauf immer nur, dass ihr als Jungfacharbeiterin ohnehin eine Ein-Zimmer-Genossenschaftswohnung zu vergünstigten Konditionen zustehe, und ihr auch ihre Eltern damit helfen würden. Ihr »verheiratet«-Stempel im Pass war ihr mit der Zeit immer stärker ein Dorn im Auge. Oft nörgelte sie, dass sie nicht vorgehabt hatte, ihr Leben mit einer Scheinehe zu beginnen. Ich versuchte, dagegenzuhalten.

»Aber Liebes, wir sind doch zusammen. Und das heißt, dass deine Ehe echt ist.«

»Gib dich doch nicht Illusionen hin! Für die Rolle eines Ehemanns taugst du nicht, schon allein deshalb, weil du mir kein Kind machen kannst.«

Im Sommer bekam sie als gewissenhafte und aussichtsreiche Jungfacharbeiterin einen Urlaubsscheck, mit dem sie ihre Ferien in Jugoslawien verbringen durfte. Für mich kam das unerwartet. Aber ich fand mich damit ab.

Der Theaterclub Subbota ließ endlich die Galaaufführung von Fenster, Straßen, Torwege vom Stapel. Papa kam zur Premiere. Das Stück handelte von Petersburg und von den jungen Leuten in diesem Petersburg, die mit der Zeit gingen. Die ganze Theatervorstellung lang sangen sie dieses feine Lied:

Einen Gottesacker will ich

niemals für mich wählen.

Auf die Wassiljewski-Insel komm ich

mich Sterben legen.

Der Name Brodsky, wie auch seine Gedichte, waren verboten, darum hatte in der Administration der Leningrader Kulturabteilung niemand die Gedichte von Brodsky gelesen. Das Theaterstück war ein Riesenerfolg.

BEGRÄBNISSE UND SCHEIDUNGEN

Meine Liebste kam nachdenklich und wortkarg zurück. Ich hingegen hatte sie schrecklich vermisst und freute mich wie ein junger Hund, sie wiederzusehen. Aber einige Zeit später stellte sich heraus, dass sie schwanger war. Aus meiner blöden Unerfahrenheit heraus machte ich ihr zuerst eine wüste Eifersuchtsszene, aber dann, als ich wieder runtergekommen war, sagte ich ihr, ich würde ohnehin kein anderes Mittel kennen, Vater unseres gemeinsamen Kindes zu werden.

»Liebling, in jeder beliebigen Kreisstadt werden sie mich in der Lokalzeitung publizieren, in jedem Restaurant kann ich Trompete spielen und überall als Bühnenbildnerin arbeiten. Ich bin bereit, meinen Namen abzulegen, ich bin bereit dir und unserem zukünftigen Kind zuliebe auch meine Familie hinter mir zu lassen. So eine Projektingenieurin wie du, mit dreijähriger Berufserfahrung, schlägt sich überall durch. Und in der Peripherie ist es leichter, Karriere zu machen.«

»Nein, ist es denn die Möglichkeit, du willst für mein Kind der Vater werden? Mir reicht es mit diesem abenteuerlichen Vaudeville.«

Sie ließ abtreiben. Nach dem Abort lag sie drei Tage lang im Bett, die Nase gegen die Wand gedrückt, dann ging sie auf Nimmerwiedersehen. Nein, ich lief ihr nicht nach und suchte sie nicht, ich wusste ja, wo sie war. Ich hatte einfach nur das Gefühl, als hätten sie auch mich innen drin ausgeschabt. Da war kein Blut, kein Schmerz, nur diese Leere und das Bewusstsein, dass ich völlig hilflos und nichtsnutzig war.

Irgendwann tauchte sie auf und sagte, sie habe in ihrem lokalen Standesamt die Scheidung eingereicht. Ich müsse nichts mehr machen, nur ein paar Mal nicht bei der Kommissionssitzung auftauchen, dann würde sie ohne mich geschieden.

»Das einzige, was ich von unserer Ehe habe«, sagte sie, »ist, dass ich jetzt schon mal verheiratet war und mit meinen 30 Jahren nicht als alte Jungfer gelte.«

Mein sogenannter Ehemann Viktor fand mich. Ihm war endlich eingefallen, zu einem der Treffen des Liederclubs zu kommen. Wir fuhren nach Gatschina und reichten die Scheidung ein.

Dann starb Borja Potjomkin völlig unerwartet. Ich ging nicht auf das Begräbnis. Beerdigungen und Hochzeiten mag ich nicht. Klar ist das ein triftiger Grund, dass sich alle zusammenfinden, trinken und die Köpfe bei allem möglichen Klatsch zusammenzustecken, aber mir ist das ein Gräuel. Sascha Tscherkassow, seine Frau Farida und ich saßen einfach alleine bei mir zu Hause zusammen und ließen uns schweigend volllaufen.

Dann starb Oma Nina. Da konnte ich mich nicht herausschwindeln, außerdem sind Begräbnisse innerhalb der Verwandtschaft eine ganz andere Sache für mich. Ich nahm eine Schachtel mit Schminkutensilien mit ins Leichenhaus, deshalb lag Oma schließlich frisch wie ein Gürkchen in ihrem Sarg. Nur hatten sie ihr im Krankenhaus nicht rechtzeitig den Kiefer eingerichtet, und ich konnte gegen die Starre nichts mehr tun, außer ihr sorgfältig ein Spitzendeckchen drüberzubreiten.

Beim Leichenschmaus in Opas Wohnung, als alle ins Stiegenhaus rauchen gingen, verkündete Tante Larissa, die Witwe von Opa Igor, dem jüngeren Bruder meiner Oma, feierlich: »Das, Ljolik, ist der Wechsel der Generationen. Als nächstes stirbt Oma Natascha, dann Oma Lida, danach Oma Schanna, und dann bin auch schon ich an der Reihe.«

Tante Larissa starb zwei Wochen später. Sie telefonierte zu Hause in der Küche mit jemand von der Arbeit, als sie einfach vornüberkippte und mit dem Gesicht auf den Boden knallte. Bei der Vierzig-Tagefeier seit Oma Ninas Tod waren es bei Tante Larissa gerade neun Tage. Da vergeht es einem, überhaupt noch etwas vorauskalkulieren zu wollen.

Es kam der Tag, an dem die Scheidung von Viktor und mir in Kraft trat. Wir saßen im Standesamt von Gatschina und warteten. Aus dem Lautsprecher jammerte eine infantile Stimme munter vor sich hin:

Na da lachen wohl die Hühner

Dass ’ne Woche nicht genüge

Ihnen war die Woch‘ zu kurz

Um bei mir zu sein nur einen Tag.

Doch auch Kinder müssen dringend

Einen Feiertag verbringen,

Aber ohne Papa, ohne Mama

zählt es nicht als Feiertag.

Es war, als sei Boris Potjomkin wieder bei uns. Nur, dass er keine neuen Lieder mehr schreibt.

USPENSKIJ, SOLOWJOW-SEDOI UND MEIN TREFFEN MIT NATASCHKA

Jetzt hatte es eigentlich keinen Sinn mehr, weiter Hausmeister zu sein. Umso mehr, als meine Eltern die Wohnung in Gatschina gegen zwei riesige Zimmer in einer Vielpersonen-Kommunalka an der Fontanka, in einem ehemaligen Zinshaus des Händlers Jelissejew, getauscht hatten. Dieser Kasten aus Stuckatur prangt unerschütterlich unweit der Lomonossow-Brücke, gegenüber dem Lomonossow-Platz. Aber ich hatte mich schon dran gewöhnt, nicht mehr bei meinen Eltern zu wohnen, und das wirkte sich auf mein weiteres Schicksal aus. Ich behielt mein Nest im Pförtnerhaus.

Einer meiner Freunde riet mir, meine Gedichte in die Wojnow-Straße zu bringen, die jetzt wieder Shpalernaja heißt, ins Haus der Schriftsteller. Dort war die Kommission für die Arbeit mit jungen Schriftstellern. Diese Kommission leitete Genosse Scheweljow. Er ließ die Augen über meine mitgebrachten Zettel wandern, tippte mit dem Finger auf den letzten und sagte: »Mir ist nicht klar, als was Sie arbeiten. Als Musikantin oder als Bühnenbildnerin.«

»Als Hausmeisterin.«

»Na, egal, das muss konkreter sein.«

Gleich daneben, in seinem Kabinett, saß irgend so ein mit Orden behangener Alter und zischte boshaft: »Da zieht man sie auf und verhätschelt sie, dafür, dass sie dann als Hausmeister und Wächter vor sich hin schmarotzen.«

Ich sagte darauf nichts. Es hatte keinen Sinn, solchen Urzeit-Panzerschiffen in den Kram zu reden.

Jedoch bekam ich nach ein paar Wochen per Post eine Einladung ins Haus der Schriftsteller zur nächsten planmäßigen Versammlung der jungen Schriftsteller. Und ich gab mir die Ehre. Ein schmächtiger Typ erläuterte uns den versteckten Sinn von Bloks Poem Die Zwölf.

In der Pause, als wir unter der Stiege eine rauchten, kam ich mit einem sehr lieben Mädel ins Gespräch. Beim Plaudern stellte sich heraus, dass Lida Gladkaja sie hierhergeschickt hatte, die damals die Poesie-Rubrik der Zeitschrift Aurora beaufsichtigte. Ich kannte diese Dame schon. Bei ihr hatte ich mich unter dem Namen, der in meinem Männerpass stand, und Gedichten über die unerwiderte Liebe eines leidenschaftlichen Jünglings vorstellig gemacht. Sie hatte mir vorgeworfen, ungeschickt Zigeunermanier nachahmen zu wollen, und empfahl mir, mehr Sergej Narowtschaty und Nikolaj Trjapkin zu lesen. Aber dank ihres gütigen Rats traf ich auf Alexander Gitowitsch und David Samojlow, als ich wieder einmal in die Bibliothek schlenderte, um die empfohlenen Autoren zu suchen.

Nach der Rauchpause las uns der alte Uspenski im roten Salon ein paar Kapitel aus seinem neuen Buch Aufzeichnungen eines alten Skobars vor. Ich saß mit dem Mädchen daneben, und wir lauschten atemlos dem lebenden Klassiker.

Dieses Mädchen war Natascha Romanowa [Schriftstellerin und Leiterin einer Schule für russische Sprache, AdÜ] . Nur trug sie damals noch ihren Mädchennamen. Sie war damals sechzehn Jahre alt und studierte an der Uni auf der philologischen Fakultät. Ich war zweiundzwanzig und arbeitete als Hausmeisterin im Gostiny Dwor.

Als das Treffen im Haus der Schriftsteller vorbei war, kauften wir Wein und machten uns gemeinsam mit den jungen Poeten, die sich uns angeschlossen hatten, auf in meine Pförtnerbude auf der Dumskaja. Dort wartete meine Liebste auf mich. Sie hatte beschlossen, zu mir zurückzukommen. Ich sang den ganzen Abend lang meine Lieder vor. Als die Gäste aufbrachen, stellte sich heraus, dass Nataschka die letzte Schnellbahn in ihr heimatliches Pesotschnaja versäumt hatte, wo sie bei ihren Eltern wohnte. Ich war froh, dass ich mir in dieser Nacht die Aussprache mit meiner Liebsten erspart bleiben würde.

Am nächsten Morgen, als ich mit dem Straßenkehren auf der Perinnaja-Linie fertig war und Nataschka zum Bahnhof gebracht hatte, kam ich zurück, um mit der Liebsten zu frühstücken. Sie lud mich zu einer Dichterlesung von Solowjow-Sedoi ein. Bei dieser Dichterlesung sang der Knabenchor unter der Leitung ebenjenes Genossen, dem ich meine Aufnahme in der Chorschule in der Klasse von Galina Wladimirowna Skopa-Rodionowa zu verdanken hatte. Ich saß dort und dachte: »Waren all diese Zufälle und günstigen Fügungen des Schicksals wirklich umsonst?«

CREDITS:

Gelena Welikanowa: Oj, ty, rosch, Musik: Alexander Doluchanjan, Text: Anton Prischelez

Die erwähnte Aufzeichnung ist leider nicht als Hörbeispiel verfügbar. Statt der russisch-sowjetischen Opernsängerin Nadeschda Obuchowa singt stattdessen Jelena Kamburowa das Lied Orljonok, Musik: Viktor Bely, Text: Jakow Schwedow

Muslim Magomajew: Buchenwaldski nabat, Musik: Wano Muradeli; Text: Alexander Sobolew

Z.B. die Müller-Arie aus Rusalka

Georg Ots: Khotjat li russkie vojny, Musik: Eduard Kolmanowski, Text: Jewgeni Jewtuschenko

Wladimir Netschajew: Ballada o soldate (Shjol soldat), Musik: Wassili Solowjow-Sedoj, Text: Michail Matussowsky

N. Obuchowa: Kalitka, Musik: Wsewolod Bujukli, Text: Alexej Budischtschew

Lidia Ruslanowa: Okrasilsja mesjac bagrjanzem, Musik: Jakov Prigoschi, Text: Dmitri Minajew

Och, Wassilki, Wassilki, Volkslied, Text nach einem Gedicht von Alexander Apuchtin

Vadim Kozin: Druschba, Musik: Wladimir Sidorow, Text: Andrej Schmuljan

Mark Bernes: div. Lieder

Claudia Schulschenko: div. Lieder

Konstantin Sokolski: div. Lieder

Wie Lerchengesang: Musik-Doku über Sergej Lemeschew

Iwan Koslowski: Tschaikowski-Romanzen

G. Ots: Arie aus Mr. X, Musik: Emmerich Kálmán

Vo polje berjozka stojala, Volkslied

Gesangs- und Tanzensemble des zentralen Dunaewski-Hauses für Eisenbahnerkinder: U dorogi tschibis, Musik: Michail Jordanski, Text: A. Prischelez

Gelena Welikanowa: Galoschi, Musik: Arkadi Ostrowski, Text: Soja Petrowa

Vokal-Ensemble Kalinuschka: Krapiwuschka, Volkslied

Alexander Wolokitin: Madagaskar, Text und Musik: Waleri Petrenko

Leonid Charitonow: Slawnoje morje, swjaschtschenny bajkal, Musik: unbekannter Autor, Text: Denis Dawydow

Tschisch&Co: Wot pulja proletela

Isabella Jurewa: Sascha, Musik: Boris Fomin, Text: Pawel German

Mark Bernes: Jesli by parny vsej zemli, Musik: W. Solowjow-Sedoj, Text: Jewgeni Dolmatowski

Heinrich Greifs deutsche Nachdichtung der Lermontow-Verse. Die beschriebene Aufnahme mit einer Knabenstimme ist leider nicht als Hörbeispiel verfügbar. Stattdessen singt Sergej Lemeschew Belejet parus odinoki, Musik: Alexander Warlamow, Text: Michail Lermontow

Verse aus Alexander Puschkin: Ein Winterabend

Kinderlied Parowos po relsam mtschitsja

Pesnja o junom barabanschtschike, Musik: Sergej Nikitin, Text: Michail Swetlow

Chas-Bulat udaloj, Musik: Olga Agrenewa-Slawjanskaja, Text: Alexander Ammosow

Maja Kristalinskaja und Josif Kobson: Po Angare, Musik Alexandra Pachmutowa, Text: Sergej Grebennikow und Nikolaj Dobronrawow

Ljusena Owtschinnikowa, Nikolaj Pogodin: Stary Kljon, Musik: Alexander Pachmutow, Text: Michail Matusowski

Georgi Pankow: Hymne der demokratischen Weltjugend, Musik: Anatoli Nowkow, Text: Lew Oschanin

Georg Ots: Arie von Radschami aus der Operette Bajadere von E- Kálmán

Walera Korotin: Guljaj, schigan

Juri Mazurok: Rodina, Musik: Serafim Tulikow, Text: Juri Poluchin

Bulat Okudschawa: Nadeschdy malenki orchestrik

B. Okudschawa: Po smolenskoj doroge

Alexander Vertinsky: Proschtschalny uschin

Tschornaja rosa, Gauner-Folklore

Maria Tchorschewskaja: Kanikuly ljubwi, Musik: Miyagawa Yasushi, Text: Leonid Derbenjow

Wjatscheslaw Motsardo: Tscheremschina, Musik: Wassili Michajljuk, Text: Nikolaj Jurijtschuk

Tamara Miansarowa: Cherny kot (1963), Musik: Juri Saulski, Text: Michail Tanitsch

Olga Krause: Skwos topolja, Fragment

Edita Pjecha: Nasch sosed, Musik und Text: Boris Potjomkin

O. Krause: Zarstwo koschek

O. Krause: Gorbataja duscha

O. Krause: Parni, chloptschiki, gorlopany

Verse aus Joseph Brodsky: Ni strany ni pogosta

Nina Brodskaja: Wychodnoj, Musik und Text: B. Potjomkin